Machtposition 2

Frauen an der Spitze sind nicht genug

Wenn mit der Chancengleichheit eine tiefe und langfristige Gesellschaftsänderung angestrebt wird, braucht es mehr als nur mehr Frauen in Machtpositionen.

Mein Arbeitsfeld ist geprägt von besonderen Persönlichkeiten. Täglich treffe ich auf nette Menschen, bei denen man während des Gesprächs jedoch merkt, dass ihre Sorgen ganz andere sind als meine. Ich kenne aber auch Vorgesetzte, welche die Mitarbeitenden um Mitternacht mit neuen Aufgaben für den kommenden Morgen terrorisieren. Obwohl diese Charaktere meistens weisse, hochgebildete Männer sind, hat sich meine Branche – wie auch andere Sektoren – in den letzten Jahren sehr viel Mühe gegeben, eine bessere Geschlechterparität zu schaffen. Das Ergebnis: Im Vergleich zu 2021 ist der Frauenanteil in Spitzenpositionen von nur 3 Prozent auf 12 Prozent angestiegen. Dies obwohl mittlerweile fast genauso viele Frauen wie Männer eine Karriere in meiner Branche anstreben, ist die Nummer von Frauen auf dem Gipfel der Hierarchie aber noch traurig klein. Fortschritte sind trotzdem lobenswert und ein vielversprechender Anfang auf dem Weg zur vollständigen Geschlechterparität. Letztendlich wurde Rom nicht an einem Tag gebaut … oder so würden es manche behaupten.

Sind Frauen und Männern im Büro so unterschiedlich?

In meiner Lohnarbeit präsentieren Junior-Mitarbeitende vor den Vorgesetzten wöchtentlich ihre neuen Ideen, um deren Rückmeldungen zu erhalten. Zumindest ist das die Theorie. In der Praxis kämpfen Vorgesetzte darum, gehört zu werden und sich zu beweisen. Dabei beobachte ich oft, dass sich Vorgesetzte gegenseitig korrigieren und die eigentlich präsentierende Person in den Hintergrund gerät. Zudem haben so manche in meinem Team erleben müssen, dass während Sitzungen häufig die Vorgesetzten ihre Stimmen erheben, um sich einfacher durchsetzen zu können. Es werden Aussagen unterbrochen und zu Beginn einer Ausführung wird bereits Kritik ausgeübt, statt die vortragende Person aussprechen zu lassen. So sieht ein ganz normaler Tag in einem Arbeitsumfeld aus, welches von typisch männlich sozialisierten Charakteren geprägt ist.

Das besondere an dieser Situation ist, dass die Hälfte diese Vorgesetzten in diesem typisch «männlichen» Machtspiel Frauen sind. Warum weisen Frauen in Machtpositionen also typisch männlich sozialisierte Charaktereigenschaften auf?

Wo ist das Veränderungspotential?

In einer Studie von 2018 haben Forschende die Persönlichkeitsmerkmale von Frauen und Männern mit und ohne Kaderpositionen in Europa untersucht. Dabei sind sie auf zwei Ergebnisse gekommen, welche diese widersprüchliche Situation erklären können. Erstens haben sie keine Unterschiede in den führungsrelevanten Persönlichkeitsmerkmalen zwischen Frauen und Männern in Spitzenpositionen gefunden. Zweitens gab es zwischen Männern mit oder ohne Kaderpositionen dieselben Unterschiede in Persönlichkeitsmerkmalen wie zwischen Frauen in Nicht- und in Spitzenpositionen. Es scheint so, als ob Frauen und Männer in Spitzenpositionen einander ähnlicher sind, als man zuerst gedacht hätte. Zudem haben weitere psychologische Studien festgestellt, dass Frauen dazu gedrängt werden, typisch männlich sozialisierte Eigenschaften anzunehmen, um überhaupt in Spitzenpositionen zu kommen. Hier zeigt sich, wie das jetzige System Frauen zwingt, typisch männlich sozialisierte Attribute anzunehmen – beispielsweise dominant oder wettbewerbsorientiert aufzutreten –, um überhaupt wahr- und ernstgenommen zu werden.

Heutige Bestrebungen in der Repräsentation von weiblichen Spitzenpositionen dienen dazu, Männer lediglich mit Frauen zu ersetzen, welche genau die gleichen toxisch männlich sozialisierten Attribute aufweisen. Welche Fortschritte erwarten wir dann von einem System, das grundsätzlich gleichgeblieben ist? Sehr provokante Frage. Ich will hier nicht leugnen, dass geschlechtergerechte Vertretung von sich selbst auch ein wertvolles Ziel ist. Repräsentation von unterrepräsentierten Gruppen gibt denjenigen Mut, die sich früher ausgeschlossen gefühlt haben und noch heutzutage ausgeschlossen werden. Aber wenn das Ziel der Chancengleichheit eine tiefe und langfristige Gesellschaftsänderung anstrebt, können wir nicht bei einer gesellschaftsgerechten Vertretung die Diskussion aufhören. Es hat sich erwiesen, dass trotz positiver Änderungen die Charakteristiken der Personen, die an Spitzenpositionen gelangen, gleichgeblieben sind, egal ob Mann oder Frau. Heutzutage müssen Führungspersonen noch immer sehr autoritäres Verhalten aufweisen. Doch was ein*e gute*r Chef*in auszeichnet, ist doch eigentlich genau das Gegenteil. Wir müssen davon weggkommen, zu meinen, dass Personen in Spitzenpositionen vermeintliche «männliche» Attribute nachahmen müssen. Was ich hier meine ist, dass eine gute Führungsperson – egal welches Geschlecht sie hat – doch eigentlich menschlich und zugänglich sein sollte.

Daher ist es für eine langfristige Änderung notwendig, neue Werte einzuführen, um Eigenschaften zu messen, welche wir als führungswürdig wahrnehmen. Marginalisierte Gruppen, unter anderen Frauen, litten und leiden noch immer unter Arbeitsbedingungen, die von Männern vorbestimmt werden. Ein moderner Blick auf Chancengleichheit muss Eigenschaften unterstützen, welche das Arbeitsumfeld von toxischem Verhalten bereinigen. Wir müssen ein System neu denken, das positive Eigenschaften unterstützt, anstatt eins, das eine Gruppe dazu zwingt sich der dominanten Gruppe anzupassen. Um diese neue Richtung einzuschlagen, braucht es Platz für Diskussionen. Es braucht Platz, um sich – diskriminierungsfrei – äussern zu können, was für ein Art von Fühungsverhalten gewünscht ist oder was es zu verbessern gilt. Ohne diesen Ansatz, werden wir nur die Oberfläche bereinigen, ohne etwas in der Tiefe zu verändern.

J. García ist freier Autor bei Geschlechtergerechter.


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