Toleranz 3

Gendersensible Medizin

Was für Konsequenzen folgen, wenn in der Medizin ein weisser Mann als Standard angesehen wird?

Heute wissen wir, dass es nicht nur zwei Geschlechter gibt. Statt von binären Rollen, sprechen wir von einem Spektrum an Identitäten. Trotzdem wurde im Juni 2022 im Nationalrat eine Motion eingereicht, in der gefordert wurde, dass der Bundesrat die Forschung in der geschlechtersensiblen Medizin aktiv fördern soll. Aber was bedeutet geschlechtersensible Medizin eigentlich? Warum ist sie gerade aus feministischer Perspektive relevant und wo steht sie aktuell?

Der menschliche Körper ist komplex. Hormonelle Zusammensetzungen, Funktionsvariationen und nicht zuletzt eine breite Diversität an Erscheinungsbilder machen uns zu Individuen. Historisch gesehen wurde diese Vielfalt jedoch weder verstanden noch wertgeschätzt. In der Entwicklung der medizinischen Arbeit und Forschung wurde primär von einer Norm ausgegangen: dem weissen, 70 kg schweren cis-Mann ohne Behinderungen. Dies hat dazu geführt, dass oft das Verständnis von Krankheiten oder das Testen von Medikamenten primär für diese Norm abgestimmt wurde. So wissen viele nicht, dass ein Herzinfarkt sich im weiblichen Körper mit anderen Symptomen manifestiert als im männlichen. Die empfohlene Dosierung von Medikamenten orientiert sich an einem normativen Gewicht der Männer und führt beispielsweise bei Menschen mit einem geringeren Gewicht zu lästigen Nebenwirkungen. Ergänzend zu den biologischen Unterschieden, gibt es auch gesellschaftliche Vorurteile, welche die Behandlung beeinflussen. So belegen Studien, dass Personen, die männlich gelesen werden bei Schmerzen eher Schmerzmittel erhalten, wobei weiblich gelesene Personen, bei denselben Symptomen eher beruhigende Medikamente erhalten. Dies beeinflusst unter anderem Behandlungen an trans Personen enorm.

Die geschlechtersensible Medizin möchte diese Forschungslücken und Fehlschlüsse revidieren und ergänzen. Dies bezieht sich aber vor allem, wie der Name besagt, auf die Geschlechter. Einerseits das biologische Geschlecht, welches einen konkreten Einfluss hat auf Krankheit und Behandlung. Anderseits wird aber auch das soziale Geschlecht mitgedacht, um Sexismus und Transphobie in der Medizin zu bekämpfen. Leider bestehen aber diese Trugschlüsse auch bei anderen Merkmalen. Wer nicht eine weisse Haut hat, riskiert, dass dermatologische Krankheiten nicht korrekt diagnostiziert werden. Zudem belegen auch Studien, dass nicht-weisse Personen weniger ernst genommen werden im Gesundheitswesen. Bei gewissen Menschen kommen mehrere nicht-normative Merkmale zusammen, dann wird umso deutlicher wieso ein intersektionaler Ansatz wichtig ist.

Zusammengefasst bedeutet das, dass die Menschen, welche nicht dem Bild des normativen weissen Mannes entsprechen, weniger ernst genommen und zum Teil falsch diagnostiziert und behandelt werden. Die Konsequenzen davon können fatal sein.

Der Bundesrat hat eine staatliche Förderung der Thematik abgelehnt, mit der Begründung, dass das Bottom-Up-Prinzip genüge. Am 1. Mai 2024 wird es an der Universität Zürich eine Professur für Gendermedizin geben, was für Forschung und Lehre einen wichtigen Fortschritt ist. Einige Wissenschafter:innen setzen sich stark für das Thema ein, innerhalb der Profession aber auch in der Öffentlichkeit. Die Medien berichten über die Problematik und Podcasts klären die Bevölkerung auf. Schritt für Schritt bewegen wir uns Richtung einer Zukunft, in der alle Menschen im Gesundheitswesen ernst genommen werden und korrekt diagnostiziert und behandelt werden.


Sissel Svahn ist Teil der Redaktion von Geschlechtergerechter.