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Die Stille Gewalt

Laut Asha Hedayati lässt der Staat Frauen meist allein. Dies gilt besonders im Fall von Gewaltbetroffenheit. Asha Hedayati erklärt in «Die Stille Gewalt», warum dieses Problem alle angeht.

In Asha Hedayatis Buch «Die Stille Gewalt» erläutert die Anwältin, «wie der Staat Frauen allein lässt», wenn sie von Männergewalt betroffen sind. Staatliche Institutionen bieten gewaltbetroffenen Frauen ungenügend Schutz und Sicherheit. Denn patriarchale Strukturen stützen Gewalt an Frauen und gleichzeitig stützt Gewalt an Frauen diese Strukturen. Genau dem geht Asha Hedayati in ihrem Buch nach. Ihr Fokus liegt auf der Ausgangslage Deutschlands, welche sich in vielen Fällen der Schweiz ähnelt.

Gewalt an Frauen ist Ausdruck von Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen, die strukturell in unserer Gesellschaft begründet sind.

Zitat aus Asha Hedayatis Buch «Die Stille Gewalt: Wie der Staat Frauen alleinlässt».

An Asha Hedayatis Lesung äussert sie sich mit einer saloppen Aussage: «Männer töten, wenn Frauen sich trennen wollen. Frauen töten, weil sie sich trennen wollen.». Als Zuhörerin erstaunte mich die Direktheit der Aussage. Basierend auf dieser Aussage geht Asha Hedayati, auf die Emanzipation der Frauen ein. Gewalt an Frauen steigt nicht trotz der Emanzipation, sondern gerade wegen ihr. Denn wenn Emanzipationsschritte in dysfunktionalen, toxischen oder gewaltvollen Partnerschaften eingefordert werden, reagiert der Partner oft mit noch mehr Gewalt. Emanzipationsschritte werden als Kontroll- und Machtverlust wahrgenommen, wo dann mittels Gewalt versucht wird die vorherigen Verhältnisse wiederherzustellen. Am extremsten zeigt sich dies bei Trennungen aus Gewaltbeziehungen, welche statistisch gesehen einen Hochrisikofaktor für Feminizide darstellen. Dabei gilt; je grösser das Machtgefälle in einer Beziehung, desto grösser die Gefahr des Machtmissbrauchs.

Doch Trennungen aus genau diesen Gewaltbeziehungen werden durch aktuelle Strukturen erschwert. Asha Hedayati nennt hier nur nicht wenige Gründe, welche Trennungen erschweren: wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisse, (Alters-)Armut oder das Risiko, das Sorgerecht für die Kinder zu verlieren. Auch legale Gründe, wie die Abhängigkeit des Aufenthaltsstatus vom Zivilstand, sind Gründe, weshalb Frauen in Gewaltbeziehungen bleiben, statt sich zu trennen. Nicht zu schweigen vom hocheskalierten Wohnungsmarkt in den Grossstädten, wo bezahlbarer Wohnraum kaum auffindbar ist. Dies macht eine Trennung nur schon räumlich fast unmöglich. Somit wird der Verbleib in der Ehe für viele meist zur Zwangslösung. Unter anderem auch, weil alleinstehende Mütter noch schlechter dastehen als verheiratete Mütter.

«Die Stille Gewalt» geht uns alle an. Denn jede Person kennt eine Gewaltbetroffene im persönlichen Umfeld. Interessant ist, – und dies wirft auch Asha Hedayati in ihrem Buch auf – dass bekanntlich niemand Tatpersonen kennt. Sich mit der Thematik der geschlechtsspezifischen Gewalt auseinander zu setzen, heisst für Asha Hedayati staatliche Institutionen kritisch anzuschauen. Institutionen, wie die Polizei, Jugendämter oder Familiengerichte, welche Teil eines Systems sind, welches geschlechtsspezifische Gewalt noch immer ermöglichen. Es heisst auch, dass die Verantwortung solcher Gewalttaten nicht auf individueller Ebene bei den Betroffenen und deren Familien gesucht werden soll, sondern bei den patriarchalen Strukturen, welche diese Gewalt fördern und meist auch noch davon profitieren. Denn Gewalt zu individualisieren, als «Beziehungsdrama» zu bezeichnen und in den privaten Raum abzuwälzen, entzieht den Staat und die Gesellschaft aus jeglicher Verantwortung. Zudem profitiert der Staat – laut Asha Hedayati – unter anderem von der unbezahlten Arbeit in Form von Care-Arbeit, welche meist von Frauen übernommen wird. Das System profitiert besonders, wenn diese unbezahlte Arbeit – trotz Gewaltbeziehung – weiterhin ausgeübt wird und das bestehende System weiterhin ungehindert funktionieren kann. Wirtschaftliche und strukturelle Gründe begünstigen Gewalt und verhindern umfassenden Schutz und Prävention. Zudem kann geschlechtsspezifische Gewalt jede Frau treffen. So hat in der Schweiz jede zweite Frau mindestens einmal in ihrem Leben bereits sexualisierte Gewalt erlebt.

In der Verfassung steht, dass Frauen und Männer seit dem 14. Juni 1981 gleichberechtigt sind. Frauen dürfen arbeiten, ihr eigenes Bankkonto eröffnen, heiraten oder entscheiden, ob sie sich trennen wollen. Doch echte Gleichstellung ist viel mehr als das. Für Asha Hedayati ist echte Gleichstellung die Summe aus sichtbaren und unsichtbaren Normen. Und so sei es verdammt schwer, bei einem diskriminierenden Arbeitsmarkt, bei ungleich verteilten Care-Arbeit und Gender-Care-Gap, bei einem Gender-Pay-Gap, und weiteren strukturellen Benachteiligungen, von echter Gleichberechtigung zu sprechen. Doch Asha Hedayati endet ihr Buch hoffnungsvoll:

Wir müssen wütender werden. Wir brauchen eine Wut, die nicht lähmt, sondern Raum für Erkenntnisgewinn lässt, eine Wut, aus der wir Kraft schöpfen können, um gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken, die mehr Gerechtigkeit und Freiheit für alle bedeuten.

Zitat aus Asha Hedayatis Buch «Die Stille Gewalt: Wie der Staat Frauen alleinlässt».

Dieses Zitat inspiriert. Ich löse mich dadurch aus der Lähmung, die ich so oft in meinem Alltag spüre. Asha Hedayati fasst in ihrem Buch genau all die Punkte auf, welche mir immer wieder neue Gründe aufweisen, wieso ich wütend sein sollte und mich für eine gewaltfreie Gesellschaft einsetzen will. Ich bin wütend auf ein System und eine Gesellschaft, welches Gewalt legitimiert. Wütend auf ein System, welches diese Gewalt fördert und dann auch noch davon profitiert. Nur in der gemeinsamen Wut gepaart mit Empathie, schaffen wir es, genauer hinzuschauen und Ungerechtigkeiten zu sehen und auszugleichen. Wütend sein ist wichtig und richtig. Verbündete im Kampf gegen Gewalt zu finden ist unabdingbar. Nur so ist Wandel hin zu einer gewaltfreien Gesellschaft möglich. Und dabei sollen nicht nur Frauen wütend sein, sondern alle in unserem System lebenden Menschen. Denn geschlechtsspezifische Gewalt kann alle treffen. «Die Stille Gewalt» bietet hierfür eine gute Grundlagenlektüre zum Thema geschlechtsspezifische Gewalt.

Gelernt habe ich durch dieses Buch, dass Wut nicht zwingend etwas Negatives bedeuten muss. Wut heisst nicht immer gleich Gewalt. Wut kann aktivieren, ermutigen und das Gefühl der Hilfslosigkeit und Einsamkeit lindern. Als weiblich sozialisierte Frau wurded mir meine Wut stets abgesprochen. Doch meine Wut ist durchaus legitim.

Diese Wut ist Treiberin für mein Engagement für eine bessere Zukunft. Denn ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der ein Leben frei von Gewalt möglich ist und Partnerschaften aufgrund selbstbestimmter Entscheidungen und losgelöst von strukturellen Abhängigkeiten eingegangen werden können. Nun frage ich Dich; aktiviert auch Dich diese Wut, um für eine gewaltfreie Gesellschaft einzustehen?

BEGRIFFSERLÄUTERUNGEN

Care-Arbeit

Bei Care-Arbeit ist von Arbeit in Form von Betreuungs-, Pflege- und Hausarbeit für Kinder und Pflegebedürftige die Rede. Diese Arbeit kann bezahlt oder unbezahlt ausfallen. Meist fällt sie jedoch ohne Bezahlung aus und wird mehrheitlich von Frauen verrichtet. Diese Form von Arbeit erfährt praktisch keine gesellschaftliche Anerkennung.

Gender-Care-Gap

Da diese unbezahlte Care-Arbeit mehrheitlich von Frauen geleistet wird, ist vom Begriff «Gender-Care-Gap» die Rede.

Gender-Pay-Gap

Der Gender Pay Gap beschreibt den Verdienstabstand pro Stunde zwischen Frauen und Männern. Die Ursachen hierfür können unterschiedlich aussehen: Frauen arbeiten beispielsweise in schlechter bezahlten Berufen oder erreichen seltener Führungspositionen als Männer. Der Gender-Pay-Gap zeigt die direkte Folge der Lohndiskriminierung von Frauen auf.

Louise Alberti ist Projektmitarbeiterin und Teil der Redaktion bei Geschlechtergerechter.

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