Spiegel3

Studie #2 zum Generationen­dialog

Vom jungen Game Designer über den alleinerziehenden Vater bis zur ehemaligen Gemeinderätin: Knapp sechzig Personen reden über Geschlechterfragen. Was beschäftigt sie am meisten? Wo herrscht Einigkeit? Welche Themen heizen die Diskussionen an? Die neue Studie zum Generationendialog zeigt: Es geht vieles durch den Kopf und es liegt einiges auf der Zunge.

*Psssst*: Wer nicht gerne liest, kann auch in die Videoportraits eintauchen. Einige von den 57 Teilnehmenden haben sich nämlich auch vor laufender Kamera zu Geschlechterfragen geäussert.

Das Thema Geschlecht beschäftigt. Und zwar unabhängig vom Alter. Das zeigt die Auswertung des ersten Generationendialogs von #geschlechtergerechter. An einem verregneten Wochenende im November 2021 diskutierten 57 Menschen unterschiedlichster Herkunft in fünf Altersgruppen über Geschlechtergerechtigkeit bzw. Geschlechterungerechtigkeiten. Wir wollten wissen, was sie in Bezug auf Geschlechterfragen am meisten beschäftigt. Zusammen am Tisch sassen Menschen, die sich alle nicht kannten. Sie begegneten sich auf Augenhöhe und mit Respekt, diskutierten teils heftig und versuchten, gemeinsam Lösungen für Kniffliges zu finden.

Unsere Studie zum Generationendialog zeigt, dass Geschlechterfragen sehr eng mit der individuellen Lebensrealität und der persönlichen Erfahrung verknüpft sind. Obwohl die Perspektiven und Positionen sehr individuell sind, lassen sich Muster erkennen. Dabei stechen vier Themenbereiche besonders hervor.

Gesprächslandschaft: Die Grösse der Kreissektoren verweist auf die Häufigkeit der Nennung
Generationendialog themenwelt

Erkenntnis 1: Den mittleren Generationen fehlen die Worte

Ein Thema, über das alle Altersgruppen debattieren, ist der Stil der Geschlechterdebatte. Wie reden wir über Geschlecht? Welche Rolle spielt die gendergerechte Sprache?

Spannend sind die Unterschiede im Sprachgebrauch über die Generationen hinweg: Die 20- bis 25-Jährigen jonglieren ganz selbstverständlich mit neuen Begriffen und Konzepten. So spricht ein junger Student immer wieder von sich als «Cis-Mann», die Rede ist von «Fintas» und einer «heteronormativen Gesellschaft». Die mittleren Generationen hingegen sind leicht verunsichert: Sie fragen sich zum Beispiel, wie angemessen über die Geschlechtervielfalt gesprochen werden kann. Einige stellen dabei bei sich selbst einen Mangel an angemessener Sprache fest. Das Thema gendergerechte Sprache stösst vor allem bei Männern im Alter zwischen 56 und 70 Jahre auf Unbehagen: Sie haben – ganz im Gegensatz zu den Frauen im gleichen Alter – wenig Verständnis für das neue Vokabular. Bei den über 70-Jährigen ist eine geschlechtergerechte Sprache überhaupt kein Thema, sie erzählen Geschlechterfragen einfach frei von der Leber weg aus ihrer Lebensgeschichte heraus.

«Ich fühle mich als weisser Cis-Mann. Ich habe irgendwo auch eine gewisse Verantwortung, habe ich das Gefühl, weil ja – die Welt halt eine relativ lange Zeit für so Leute wie mich gemacht worden ist.» – Mann, 25 Jahre

«Ich habe noch die alte Zeit erlebt, die ist ziemlich einfach gewesen.» – Mann, 69 Jahre

Erkenntnis 2: Hartnäckige Stereotypen und Rollenbilder machen zu schaffen

Das Thema, das generationenübergreifend am meisten beschäftigt, ist die Hartnäckigkeit von Stereotypen und Rollenbildern im Alltag – also das tatsächliche Leben und Erleben von Geschlechterordnung. Gerade wenn es um die Kindererziehung oder die Vereinbarkeit von Beruf und Familie geht, zeigen sich viele erstaunt, wie krass sich eigentlich altbackene Traditionen noch immer halten bzw. gerade mit der Familiengründung plötzlich wieder aktuell werden. Tendenziell beschäftigten Geschlechterstereotype die Frauen und homosexuelle Männer stärker als die anderen Teilnehmenden.

«Ich habe meine Karriere, die mir wichtig ist. Und gleichzeitig meinen Freund zu sehen, der auch eine Karriere hat, die wichtig ist. Aber ihm wird die Tochter Karrieremöglichkeiten erleichtern, weil er jetzt so der seriöse Mann ist, der jetzt ein Kind hat. Und bei mir ist das so ein bisschen das Gegenteil, ich bin jetzt die Mutter.» – Frau, 32 Jahre

«Ich habe mich ehrlicherweise überhaupt nie mit solchen Geschichten auseinandergesetzt, weil ich das Gefühl gehabt hatte, da ist irgendwie ein biologischer Unterschied zwischen Mann und Frau. Seit ich mich ein bisschen intensiver damit beschäftige, habe ich zu meinem Erstaunen festgestellt, dass es ja mitnichten so ist. Da werden gewisse Rollen verteilt.» – Mann, 52 Jahre

Erkenntnis 3: Verwirrende Geschlechtsidentitäten

Ein drittes zentrales Thema ist die Geschlechtervielfalt. Oder vielmehr die Frage nach verschiedenen Geschlechtsidentitäten und weshalb das Geschlecht heute überhaupt noch so eine grosse Rolle für das Leben spielt. Vor allem die jüngste Generation diskutiert heiss über Geschlechtsidentitäten – es ist ein Thema, das sie stark beschäftigt und verwirrt.
In der Gruppe der 26- bis 35-Jährigen ist die Diskussion um die Geschlechtervielfalt weniger von Gewicht; hier reflektieren weibliche wie auch männliche Teilnehmende, wie stark unsere Gesellschaft durch und durch männlich geprägt ist. Über alle Generationen hinweg ist es ein wichtiges Anliegen, dass Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht gesehen und beurteilt werden.

«Wieso spielt das Geschlecht überhaupt immer noch eine so wichtige Rolle. Wieso beschäftigt uns das noch so dermassen und wieso sieht man eigentlich nicht zuerst einmal den Menschen?» – Frau, 53 Jahre

«Was mich interessiert, sind die Machtinstrumente, die am Werk sind, die also mehrheitlich von Männern bedient werden. Wieso sich die Gesellschaft so entwickelt hat und wieso das so sein muss.» – Mann, 35 Jahre

Erkenntnis 4: Harte Fakten – die Gleichstellungspolitik

Last but not least sprechen die 57 auch intensiv über Gleichstellungspolitik – also über rechtlich-strukturelle Fragen zur Gleichstellung und Chancengleichheit für Mann und Frau. Der Dauerbrenner: Die Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Diese Frage beschäftigt besonders viele Teilnehmer:innen im frühen bis späten Erwachsenenalter sehr intensiv.

«Ich ertappe mich selbst. Wir stellen nur Frauen an, die keine kleinen Kinder haben. Weil, es ist nicht möglich! [...] Wir sind so schlecht dotiert in der Pflege, dass es schlicht und einfach nicht möglich ist, dass eine fehlt, wenn das Kind krank ist. Das ist purer Egoismus, das geht nicht. Aber es ist für unser Team nicht machbar.» – Frau, 59 Jahre

«Meine Frau und ich arbeiten beide viel, und von dem her kommen viele Fragen rund um Familienorganisation, verkrustete, schlussendlich soziale Strukturen, Institutionen, Gesellschaftsbilder, Familienbilder, die einem ja, eigentlich viel vom Freiraum nehmen.» – Mann, 38 Jahre

Highlights aus den Generationen – kurz und knapp:

  • Geschlechtervielfalt ist das Thema der Jungen. Die 20- bis 25-Jährigen jonglieren mit vielen Begriffen und Konzepten in ihrem Wortschatz, die die älteren Generationen nicht (aktiv) benutzen.
  • Das dominante Thema bei den 26- bis 55-Jährigen sind Geschlechterstereotypen und -rollen sowie Geschlechterordnungen, insbesondere auch in der Erziehung der Kinder oder in der Arbeitswelt.
  • Die geschlechtergerechte Sprache beschäftigt die 56- bis 70-Jährigen am stärksten. Insbesondere die Männer in diesen Generationen tun sich schwer damit, Veränderungen im Sprachgebrauch zu akzeptieren und zu gebrauchen.
  • Die über 70-Jährigen sprechen am wenigsten über Geschlechterkonzepte. Sie erzählen viel und teilen Erfahrungen, wobei die erlebten Lebensgeschichten nicht per se als Geschlechterfragen betrachtet werden.
Studie generationendialog titelbild

Hier können Sie die komplette Studie «Reden über Geschlecht und Gesellschaft» als PDF downloaden – viel Spass bei der Lektüre!

Studie downloaden

Wer redet überhaupt mit?

Wie haben wir diese Studie erstellt? Wir wollten wissen, was die Menschen in Bezug auf das Thema Geschlecht beschäftigt, wir haben nachgefragt, wir haben zugehört und ausgewertet. Gesucht haben wir die Diskussionsteilnehmer:innen über verschiedene Kanäle. Dabei war es uns wichtig, dass die Menschen aus eigenem Antrieb mitmachen. Gefunden haben wir eine bunt gemischte Gruppe, die – wenig erstaunlich – weniger divers zusammengestellt ist, als es die Deutschschweizer Bevölkerung eigentlich ist. Die 57 Personen, die Zeit und Lust auf Gruppendiskussionen zum Thema Geschlecht und Gesellschaft hatten, sind eher höher gebildet, wohnen eher in grösseren Städten, besitzen die Schweizer Staatsbürgerschaft, positionieren sich politisch selbst als nicht rechts und sind eher weiblich. Weitere Informationen zur Methode finden Sie im Kapitel 8 des Studienberichts.