Eine Krankheit, die nur Frauen haben? Eine Krankheit, die nur weisse Frauen haben? Eine Krankheit, die sogar nur weisse Karrierefrauen haben? Gibt es sowas überhaupt?
Obwohl die Medizin nun schon so lange von Endometriose weiss und jede zehnte Frau davon betroffen ist, war die Krankheit in den vergangenen Jahrzehnten kaum ein Thema in der Öffentlichkeit. Wieso ist Endometriose nicht präsenter in der Gesellschaft? Und in der Politik? Es braucht dringend eine Verbesserung der Situation!
Bevor der historische Teil startet, schau dir folgenden Kurzfilm an!
Über Endometriose ist bisher ziemlich wenig bekannt. Bis heute weiss man nicht, wie diese Krankheit entsteht, oder wie sie geheilt werden kann. Zudem werden Betroffene oftmals nicht ernst genommen, wenn sie von ihren Schmerzen erzählen. Expert*innen sagen: Die westliche Medizin war lange von Männern dominiert und Menstruationsbeschwerden wurden von vielen Ärzten «belächelt». Doch wie kam es dazu?
Griechische Gött*innen und herumspazierende Gebärmütter
Bis in die griechische Antike galten Krankheiten als Strafe von Gött*innen. Der griechische Gelehrte und Arzt Hippokrates erkannte, dass das nicht stimmt. Krankheiten werden nicht von zornigen Gött*innen auf die Erde gesandt, sondern entstehen durch Probleme innerhalb des menschlichen Körpers.
Während der griechischen Antike wurde der Unterschied zwischen dem sozialen Status von Frauen und Männern an ein Organ gebunden: Die Gebärmutter galt als Inbegriff für die Minderwertigkeit von Frauen gegenüber Männern. Damals stellte man sich die Gebärmutter als Organ vor, das nach Lust und Laune frei im weiblichen Körper herumläuft und den Körper kontrolliert. Frauen galten somit als ihrem Körper ausgeliefert.
Und noch mehr: Die Gebärmutter galt auch als Ursprung aller Krankheiten von Frauen. Es entstand gar eine Diagnose, mit der fortan alle Frauenkrankheiten erklärt wurden. Die Diagnose lautete «Hysterie». Dieser Name kommt vom Wort «Hystera», was auf Griechisch so viel wie «Gebärmutter» heisst. Die Krankheit Hysterie beschrieb eine Attacke der Gebärmutter auf den Körper und die Psyche von Frauen. Was genau das heissen sollte, war nicht klar definiert. Dennoch existierte diese Diagnose während mehreren Jahrhunderten.
Bilder aus der Klinik Salpêtriere: Das Beispiel einer gähnenden Frau, die angeblich ein Symptom von Hysterie mit ihrem Gähnen zur Schau stellt, zeigt die Absurdität der Hysterie-Diagnose.
Damals stellte man sich die Gebärmutter als Organ vor, das nach Lust und Laune frei im weiblichen Körper herumläuft und den Körper kontrolliert. Frauen galten somit als ihrem Körper ausgeliefert. Und noch mehr: Die Gebärmutter galt auch als Ursprung aller Krankheiten von Frauen. Es entstand gar eine Diagnose, mit der fortan alle Frauenkrankheiten erklärt wurden. Die Diagnose lautete «Hysterie».
Hilfe, Hysterie!
Im 19. Jahrhundert waren sich die Ärzte einig: Hysterie wird nicht von der Gebärmutter ausgelöst. Viel eher seien ‘irrationale weibliche Emotionen’ der Grund für Hysterie. Hierbei wurde eine klare Unterscheidung zwischen Männern und Frauen gemacht: Männer sind rational und vernünftig, Frauen hingegen irrational und emotional – kurz krankhaft.
Ende des 19. Jahrhunderts weckte die Hysterie das Interesse von Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse. Für ihn war klar: Hysterie ist die Verkörperung von schmerzlichen Fantasien und Traumata. Meist hingen diese in Freuds Verständnis mit sexuellem Missbrauch oder verdrängten sexuellen Bedürfnissen zusammen. Der Auslöser für Hysterie wurde also weiterhin an emotionalen Erfahrungen festgemacht.
Sicherlich haben sich herrschende gesellschaftliche Normen und das medizinische Verständnis von Hysterie gegenseitig beeinflusst. Die vermeintliche übermässige Emotionalität und Irrationalität von Frauen wurde auch zur Begründung der Arbeitsteilung von Männern (Berufswelt) und Frauen (Haushalt) begründet. Frauen, die sich diesem Rollenbild widersetzten, wie beispielsweise Feministinnen, galten als übermässig emotional, als krank und ‘hysterisch’. Die Hysterie diente also nicht nur als Diagnose sondern auch als Diskreditierung emanzipatorischer Anliegen.
Die Emotionen kranker Frauen galten als Grund für ihre schlechte Gesundheit und zugleich als Mittel zur Heilung. Um gesund zu werden, sollten Frauen einfach ihre Emotionen besser unter Kontrolle haben – und sich natürlich dem traditionellen Rollenbild entsprechend verhalten. Kranken Frauen wurde also die Schuld an ihrem schlechten Gesundheitszustand gegeben. Heute ist klar: Diese Frauen litten nicht unter ihren Emotionen, sondern an Krankheiten wie Epilepsie, Multipler Sklerose und Endometriose.
19. und 20. Jahrhundert: Endometriose? Endometriose!
Im Jahr 1860 tat sich was! Der in Wien lebende Philosoph und Pathologe Karl Freiherr von Rokitansky entdeckte und identifizierte bei einer Operation gebärmutterschleimhautartiges Gewebe, das außerhalb der Gebärmutter wuchs. Eine biomedizinische Erklärung für das Leiden vieler vermeintlich hysterischen Frauen war nun gefunden! In den kommenden Jahrzehnten leisteten insbesondere Ärzte aus Österreich, Deutschland, Kanada und den USA wichtige Forschung um das biomedizinische Verständnis von Endometriose zu verbessern. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhielt die Krankheit ihren heutigen Namen: «Endometriose». Obwohl um 1900 entdeckt, dauerte es bis nach 2015 bis das Wort «Endometriose» ausserhalb der Gynäkologie gebräuchlich und die ersten Frauen für ihr Leiden erst genommen wurden.
1900: Endometriose? Endometriose!
Um 1900 wurde die Krankheit Endometriose erstmals benannt. Spätestens ab da war also klar, dass es sich bei dieser Krankheit nicht um Hysterie handelt. Die Schuld wurde aber weiterhin bei den Betroffenen gesucht.
1940er-Jahre: Karrierefrau? Kranke Frau.
Jetzt kommen die weissen Karrierefrauen ins Spiel: Ab den 1940er Jahren galt Endometriose als Krankheit dieser Frauen. Für dieses Klischee gibt es verschiedene Erklärungen.
Einerseits herrschte noch immer ein traditionelles Rollenverständnis. Karrierefrauen widersetzten sich diesem Rollenbild, indem sie ihre Lohnarbeit dem Muttersein vorzogen. Für einige Ärzte dieser Zeit war deshalb klar: Wenn Frauen sich gegen das Kinderkriegen entscheiden, widersetzen sie sich einer vermeintlich «biologischen Norm». Als Resultat erkranken sie an Endometriose.
Diese Erklärung ist eindeutig teil eines Narratives, das weibliche Emanzipation erschwert oder gar verhindert. Es könnte aber durchaus sein, dass diese Erklärung auch eine gewisse medizinische Richtigkeit hat. Während der Schwangerschaft und der Stillzeit setzt die Periode aus und einige Endometriose-Symptome treten dann nicht auf. Wenn Frauen - beispielsweise aufgrund ihrer Karriere - eher später im Leben oder gar nicht gebären, findet diese Unterbrechung der Periode nicht statt und die Beschwerden sind konstanter präsent. Selbstverständlich ist eine Schwangerschaft kein Heilungsmittel für Endometriose, auch wenn das bis heute teils als «Therapie» empfohlen wird.
Eine weitere Erklärung hat mit finanziellen Ressourcen zu tun: Um sich in den 1940er Jahren eine medizinische Diagnose verschaffen zu können brauchten die Patientinnen eine Krankenversicherung. Meistens konnten sich das nur Frauen aus der Mittel- und der Oberschicht und Frauen, die erfolgreich Karriere machten, leisten. Durch privilegierte Klassenzugehörigkeit hatten Frauen aus diesen Schichten zusätzlich eine gewisse Autorität und wurden von Ärzten eher ernst genommen als Frauen der Unterschicht. Lange Zeit waren also finanzielle und soziale Privilegien notwendig, damit die eigene Erkrankung an Endometriose überhaupt anerkannt wurde. Ärmeren Frauen blieb diese Anerkennung verwehrt.
1980er-Jahre: Auch BIPoC haben Endo!
Und was ist mit Frauen, die nicht weiss sind?
In den USA wurde erst in den 1980er Jahren anerkannt, dass auch Schwarze Frauen und Frauen of Color Endometriose haben können. Früher wurde diesen Frauen vorgeworfen, ihre Symptome kämen von Geschlechtskrankheiten, ausgelöst durch Promiskuität. Rassistische Vorurteile haben hier während mehreren Jahrzehnten eine korrekte medizinische Diagnose verhindert. Klicke hier um genaueres aus der Forschung zu erfahren.
1980: Bye bye Hysterie
1980 war ein entscheidendes Jahr, um auch offiziell endlich Schluss mit der Diagnose Hysterie zu machen! Bis zu diesem Jahr war die Diagnose im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders aufgeführt. Dieses Manual ist ein weltweit anerkanntes Klassifikationssystem für psychische Erkrankungen.
Obwohl die Diagnose Hysterie als Diagnose für Frauenkrankheiten offiziell entkräftet ist, liegt der Fokus der Medizin noch immer auf Männern.
Nimmst du Informationen visuell auf? Schau dir die SRF-Doku zu Endometriose an.
Das Beispiel Endometriose macht deutlich, wie unterschiedliche Diskriminierungsformen zu Fehldiagnosen und mangelndem Wissen führen können. Die Geschichte von Endometriose ist von Sexismus, Klassismus und Rassismus geprägt. Leider wirken Narrative der Selbstverschuldung und des nicht-ernst-nehmens von Endometriose bis heute. Der beste Beweis dafür sind die vielen Jahre, die durchschnittlich bis zur Diagnose vergehen und wie häufig Endometrioseschmerzen als «normale Menstruationsschmerzen» abgetan werden.
Mehr dazu findest Du in Lena Schiblis Beitrag «Endo, was?».
Heute: Endo macht Politik
2021 forderten die Nationalrät*innen Gabriela Suter (SP) und Benjamin Roduit (Die Mitte) den schweizerischen Bundesrat zu einer Stellungnahme zur aktuellen Situation rund um Endometriose auf. Sie schlugen dem Bundesrat vor, einen nationalen Aktionsplan zur Verbesserung der Situation zu erarbeiten. Der Bundesrat lehnte dies jedoch ab. Ein Jahr später reichten die beiden erwähnten Nationalrät*innen gemeinsam mit Endo-Help eine Petition ein. Diese forderte die Erhöhung «der finanziellen Beiträge zur Endometriose-Forschung» und die Förderung «von Aufklärungsarbeit auf nationaler Ebene». Der Bundesrat wurde abermals aufgefordert, sich um die Förderung zur Erforschung von Frauenkrankheiten zu kümmern. Er lehnte dies 2022 erneut ab.
Mitte 2023 wurde in der Schweiz endlich ein Nationales Forschungsprogramm zum Thema Gendermedizin gestartet. Das Programm hat ein Budget von 11 Millionen Franken und widmet sich dem Einfluss von Geschlecht und Gender in der Gesundheitsversorgung und der medizinischen Forschung. Hier geht es zwar nicht direkt um Endometriose, aber auch diese Krankheit könnte von mehr Wissen rund ums Thema Gendermedizin profitieren.
Es tut sich also was! Und trotzdem, tagtäglich leiden Betroffene unter Schmerzen und Unverständnis für ihre Krankheit. Zudem setzt sich die medizinische Forschung zu Endometriose hauptsächlich mit den Bedürfnissen von cis-Frauen auseinander. Forschungen zur Gesundheit von intergeschlechtlichen, non-binären und trans-Menschen sind noch immer sehr selten. Es braucht dringend mehr und inklusivere Forschung, bessere Behandlungsmöglichkeiten und mehr Verständnis in der Gesellschaft! Die guten Neuigkeiten: Eigentlich kann es jetzt nur noch besser werden…
Autorin: Lynn Kohli ist Teil der Redaktion von Geschlechtergerechter.
Tourgestaltung: Louise Alberti, Projektmitarbeiterin Geschlechtergerechter.