Frauen waehlen Variante 1 Politik – Studie

Für wen Gleichstellung «kein Thema» ist

Der Wahlbarometer 2025 fragte nach den grössten politischen Herausforderungen im Land – und auch den grössten «Nichtthemen». Dort landete die Gleichstellung der Geschlechter ganz zuoberst. Sie ist aber keineswegs für alle «kein Thema».

Während im diesjährigen SRG Wahlbarometer die Frage nach den derzeit grössten politischen Herausforderungen der Schweiz keine Überraschungen mit sich brachte (Krankenkassenprämien ist klare Nummer eins, dahinter folgen Zuwanderung, Beziehungen zur EU, Klimawandel und Asylpolitik), rieben sich doch einige die Augen beim Weiterlesen. Die Gleichstellung der Geschlechter landete nämlich nicht nur ganz am Ende auf der Liste der wichtigsten politischen Herausforderungen, nein, sie belegt vor allem auch mit ziemlichem Abstand den Spitzenplatz auf der Liste der Themen, die nach Ansicht der Befragten in der politischen Debatte aktuell zu viel Aufmerksamkeit erhalten (Abbildung 1).

Abbildung 1: Themen mit zu viel Aufmerksamkeit

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«Welche Themen bekommen Ihrer Meinung nach aktuell zu viel Aufmerksamkeit?»


Ein Teil der Erklärung liegt auf der Hand: Viele Menschen haben derzeit zum einen definitiv andere Sorgen. Hohe Krankenkassenprämien und Wohnungsmieten sind im Portemonnaie unmittelbar spürbar und betreffen den Alltag sehr direkt. Die Debatten um die Beziehungen zur EU, Migration und Zuwanderung haben auf der anderen Seite ein grosses Emotionalisierungspotenzial. Dagegen wirkt die Gleichstellung der Geschlechter abstrakter und weniger existenziell. In durch Unsicherheiten geprägten Zeiten nimmt die Aufmerksamkeit vom langfristig Strukturellen ganz generell ab.

Zudem spielt auch der Eindruck mit hinein, dass in der Schweiz in Sachen Gleichstellung schon viel erreicht wurde. Frauen sind heute in Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit sichtbarer als je zuvor, der Wunsch nach Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist gesellschaftlich anerkannt und auch der selbstverständliche, offene Sexismus vergangener Jahrzehnte gilt mittlerweile in vielen Kreisen als gesellschaftlich inakzeptabel. Schnell wird somit die Forderung nach «Gleichstellung der Geschlechter» zu einem vermeintlichen Luxusthema, wofür keine unmittelbare Notwendigkeit mehr besteht.

Parteipolitische Gräben

In der entsprechenden Auswertung belegen die Klimapolitik den zweiten und die Landesverteidigung den dritten Platz der «Nichtthemen» (Abb. 1). Es liegt die Vermutung nahe, dass dieses Ranking durch die Parteibrille geprägt wird – und dass Frauen und Männer möglicherweise ebenfalls andere Sichtweisen haben.

Wie Abbildung 2 zeigt, ist das parteipolitische Muster eindeutig: Wer der FDP oder SVP nahe steht, betrachtet die Gleichstellung der Geschlechter (gross)mehrheitlich als ein Thema, dem zu viel Aufmerksamkeit zuteil wird. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums – bei der SP und den Grünen – bleibt die Gleichstellung aber eine zentrale politische Forderung, entsprechend tief ist in deren Wählerschaft der Anteil derjenigen, die finden, das Thema erhalte zu viel Aufmerksamkeit.

Wirklich bemerkenswert ist aber eine andere Feststellung: über alle Parteien hinweg zeigt sich ein Geschlechtergraben, der zum Teil sogar ziemlich tief ist. Der Anteil der Männer, die der Ansicht sind, dem Thema Gleichstellung komme zu viel Aufmerksamkeit zu, liegt im links-progressiven Spektrum rund zehn Prozentpunkte höher als der Anteil der Frauen, die diese Ansicht teilen. Auf der rechten Seiten ist der Unterschied kleiner, aber auch vorhanden. Am deutlichsten ist der Graben bei der Mitte: Die Hälfte der Männer, die die Mitte wählen, denkt, das Thema Gleichstellung erhalte zu viel Aufmerksamkeit. Diese Ansicht wird aber nur von gut einem Drittel der Frauen geteilt, die der Mitte nahestehen. Parteiintern könnte dies noch zu Diskussionen führen.

Abbildung 2: Thema mit zu viel Aufmerksamkeit: Gleichstellung (Ja-Anteil, nach Partei und Geschlecht)

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«Welche Themen bekommen Ihrer Meinung nach aktuell zu viel Aufmerksamkeit?» - Ausschnitt "Gleichstellung"

Das Fazit fällt also vielschichtig aus: Die tiefe Platzierung der Gleichstellung bei den politischen Herausforderungen im Wahlbarometer bedeutet nicht, dass das Anliegen für alle bedeutungslos geworden wäre - obwohl Gleichstellung mittlerweile häufig als erreicht respektive als Selbstverständlichkeit betrachtet wird. Die Unterschiede zwischen Geschlechtern und politischen Lagern zeigen, dass diese Ansicht alles andere als flächendeckend geteilt wird. Es gibt Personen, die das Thema irrelevant finden, weil sie dem gesellschaftlichen Wandel generell skeptisch gegenüber eingestellt sind - und andere finden einfach, dass die Forderung nach Gleichstellung inzwischen nicht mehr nötig ist, da das Ziel erreicht wurde. Für viele aber ist die Gleichstellung längst noch nicht erreicht - und gerade Frauen sehen das häufiger so als Männer.

Sarah Bütikofer und Elia Heer sind Mitautor*innen des Wahlbarometers 2025.

Referenz:

Hermann, Michael, Sarah Bütikofer, Elia Heer und Simon Stückelberger (2025). SRG SSR Wahlbarometer Oktober 2025. Zürich: Sotomo.


18.11.2025