In einer heteronormativen Gesellschaft gibt es Regeln für beide (konstruierten) Geschlechter: Frauen dürfen mit Frauen kuscheln und sogar Hosen tragen, ohne dass dies als Hinweis auf ihre sexuelle Orientierung gewertet wird. Aber Männer, die mit Männern kuscheln oder Röcke tragen? Das geht (noch) nicht, ohne dass die sexuelle Präferenz oder Identität dieser Männer in Frage gestellt und abgewertet wird. Umgekehrt werden einem Mann bei Bewerbungsgesprächen keine Fragen zur Reproduktion oder zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie gestellt. So schwirren die Erwartungen an das uns zugeschriebene Geschlecht durch die Gesellschaft und tröpfeln mal stärker, mal schwächer auf uns alle ein. Dieses hartnäckige Herumschwirren von starren alten Bildern ist den über Jahrhunderte geprägten Geschlechtervorstellungen geschuldet und erzeugt auch heute noch in jeder Gesellschaft eigene Vibes. Wie Kinder diese Vorstellungen aufsaugen und unwillkürlich weitergeben - vor allem, wenn die überholten Bilder nicht als solche erkannt werden - zeigt der Film «Close»: Zwei pubertierende Jungs aus aufgeschlossenen Familien leben eine innige Freundschaft: Sie kuscheln, übernachten beieinander, teilen sich ein Bett - BFFs eben. Allerdings nur so lange, bis diese Freundschaft von ihren Peers in einen homosexuellen Kontext gestellt wird. Dann greifen bei ihnen trotz aller gesellschaftlichen Offenheit die alten Skripte, es endet tragisch.
Im Zweifelsfall flüssig bleiben
Der Film Close kann bei Cinefile gestreamt werden.
Geschlechterstereotype sind hilfreich und gefährlich
Auch die Resilienzforschung zeigt, dass starre Geschlechterstereotype erhebliche Auswirkungen auf die psychische Gesundheit haben. Dies betrifft insbesondere Themen wie Bildung, finanzielle Unabhängigkeit, Sexualität, Suizidraten und Gewaltbereitschaft.
Stereotype sind zunächst einmal sehr hilfreich. Es sind mentale Schemata oder Skripte, die unser Gehirn bei Wahrnehmungsprozessen entlasten: Wir können Situationen, Dinge und Personen damit superschnell einordnen, durch sie wird die Welt übersichtlich.
Bleiben sie flexibel und erweitern sich je nach Situation, ist alles in Ordnung. Wenn sich Stereotype verfestigen, d.h., wenn sie starr werden, weil neue Informationen nicht integriert werden, entstehen Klischees und andere ungesunde Vorstellungen. Eben zum Beispiel, dass nur Mädchen mit Mädchen nicht-sexuell schmusen können oder, dass es ein Zeichen der Schwäche sei, wenn ein Junge weint. Es haben sich weitere Geschlechterstereotype in unseren Alltag geschlichen: Von «Boys will be Boys» und «Sei ein Mann!» über den «Familienvater» bis hin zur «Working Mum» spannt sich der Bogen dieser Bilder, die eine Welt skizzieren, die viel weniger bunt ist als die Realität. Während die ersten beiden Stereotype Beispiele für die Legitimierung von Gewalt von und gegen Jungen sind, funktionieren die letzten beiden anders: Sie implizieren, dass es sich gerade um die Ausnahme von der Regel handelt, verstärken damit aber das Stereotyp: Vater und Familie passen nicht zusammen, ebenso wenig wie Mutter und Beruf. Ähnliches finden wir in den Begriffspaaren «Man Bun», «Powerfrauen», «sensible Männer» oder «Frauenliteratur». Sie betonen jeweils das Aussergewöhnliche, das Uneigentliche und verstärken indirekt wieder das Eigentliche. Eine solche überholte Devise, die in Krisensituationen, wie wir sie derzeit (wieder) erleben, überdies oft zitiert wird, lautet «Rettet Frauen und Kinder».
Warum heisst Literatur von Männern Literatur und Literatur von Frauen Frauenliteratur? Warum werden Frauen mit Kindern gleichgesetzt? Wer rettet die Männer? Warum scheint Krieg immer noch eine valide Option zu sein?
«Was ist es, ein Junge oder ein Mädchen?»
Geschlechterstereotype sitzen besonders tief. Sie werden sehr früh geprägt. Denken wir an die erste Information, die werdende Eltern über ihr Kind erhalten: «Es ist [insert binäres Geschlecht]!», Freude herrscht: «Yeah». Erhalten die Eltern aber die Information: «Es ist intergeschlechtlich» bleibt das «Yeah» oft aus. Das als kleine Klammerbemerkung. Die bringt uns aber wieder zu den starren Schemata von Geschlecht, Sexualität, Geschlechterrollen und so weiter. Und lässt mich an Kim de l’Horizon als charmantes Beispiel für Rollenfluidität denken. Kims spielerische Leichtigkeit im Umgang mit Geschlecht inspiriert mich: Stereotype können sollen und dürfen bedient, gebrochen, aufgelöst, erweitert und neu erfunden werden. Das entlastet unser psychisches System, es schafft Freiheit und Toleranz und wirkt gegen Gewalt. Damit kein Leben so endet wie im Film «Close», eine einfache Weisheit: Im Zweifelsfall flüssig blieben.