Der Schweizer Knigge leuchtet in seinem rotmelierten weichen Einband aus meinem Bücherregal – stets griffbereit und gut sichtbar. Es ist die Ausgabe von 2001. Als Studentin blätterte ich oft und gerne darin, las interessiert und schlug bei Gelegenheit das eine oder andere Thema nach. Über die Hintergründe der Benimmregeln oder deren Ursprünge machte ich mir damals allerdings kaum Gedanken.
2024 ist die aktualisierte Auflage erschienen. Inzwischen als Mutter und Ehefrau greife ich in beiden Ausgaben gezielt zum Kapitel «Höflichkeit in der Familie» und stelle dabei erstaunt fest: In über zwanzig Jahren hat sich in diesem Bereich erstaunlich wenig verändert. In der Einleitung – wohlgemerkt von einem Mann verfasst - heisst es: «Der Schweizer Knigge vertritt die Meinung – auch auf die Gefahr hin, als altmodisch eingestuft zu werden – dass es für eine Todesanzeige des Kavaliers noch etwas früh wäre. Dass dieser bloss eine gewisse Verjüngungskur brauchte, damit ihn als frisches, modernes Exemplar im Alltag anzutreffen einem noch bemerkenswert oft vergönnt sei» (Christoph Stokar, Der Schweizer Knigge, 2024, S.51)
In Zeiten des Backlash lohnt es sich, darüber nachzudenken, was Höflichkeit heute bedeutet – und ob der sogenannte «Kavalier» wirklich ein Auslaufmodell ist oder einfach nur ein Facelift braucht. Die nachfolgende Betrachtung bezieht sich auf eine heterosexuelle Beziehung und mein eigenes Erleben in einer heterosexuellen Beziehungswelt mit den daraus entstandenen Gedanken.
Tür auf – Herz auf
Ich geniesse es sehr, wenn mein Mann mir die Tür öffnet oder mir im Restaurant den Mantel abnimmt. Sein zuvorkommendes Verhalten macht mich glücklich und gibt mir das Gefühl, dass er mir mit Respekt begegnet. Er macht sich die Mühe, zuerst aus dem Auto auszusteigen, um mir die Tür zu öffnen oder mich vorauszubitten – damit ich als Erste durch die geöffnete Tür gehen kann. Für mich ist das eine liebevolle Geste, ein Zeichen dafür, dass ich ihm wichtig bin. Im Knigge heisst es: «Bedenken Sie dabei: Gesten dieser Art haben die Wirkung eines Lächelns. Und dieses ist bekanntlich die kürzeste Distanz, die es zwischen zwei Menschen gibt.» (Stokar, 2024) Wenn wir gemeinsam ausgehen und genügend Musse haben, geschieht es ganz selbstverständlich, fast beiläufig – und sorgt für gute Stimmung.