In meinem letzten Text habe ich von meinen verschiedenen Rollen geschrieben und darüber, inwiefern es mir gelingt, sie zu vereinbaren (und inwiefern nicht). In diesem Text möchte ich nun anhand von drei Thesen aufzeigen, was für mich notwendig ist, damit Vereinbarkeit gelingen kann. Die Thesen sind weder abschliessend noch allgemein gültig, sondern entsprechen einzig dem, was ich persönlich erlebt habe.
These 1: Vereinbarkeit braucht Flexibilität.
In meiner Erfahrung ist es sehr hilfreich, wenn die verschiedenen Rollen möglichst viel Flexibilität zulassen. Ich habe das Glück, dass bei meiner Arbeitsstelle sowohl flexible Arbeitszeit als auch die Möglichkeit, an gewissen Tagen zuhause zu arbeiten, selbstverständlich sind: So kann ich an manchen Tagen 10 Stunden arbeiten und an anderen nur sechs (oder auch mal drei). Wenn ich am Nachmittag mit den Kindern bin, arbeite ich am Morgen von zuhause und empfange sie dann zum Mittagessen.
Die Flexibilität geht aber in alle Richtungen: Hat eine meiner Rollen wichtige Bedürfnisse, so müssen die anderen Rollen sich flexibel zeigen. Wenn bei der Arbeit etwas Dringendes fertiggestellt werden muss, macht es mir nichts aus, dies einmal am Abend oder am Wochenende zu tun. Oder wenn meine Partnerin eine intensive Phase hat und viel arbeitet, übernehme ich in der Zeit mehr Aufgaben rund um Haushalt und Kinder und stecke bei meinen anderen Rollen zurück.
Natürlich weiss ich, dass nicht jede Arbeit sich gleich gut dazu eignet, örtlich und zeitlich flexibel ausgeführt zu werden. Als die Kinder sehr klein waren, arbeitete ich als Lehrer und war da teilweise weniger frei. Man könnte diese Flexibilität, wie ich sie erlebe, als Privileg interpretieren. Ich sehe sie eher als Notwendigkeit und plädiere dafür, dass sich alle Beteiligten grundsätzlich flexibler zeigen sollen.
Dazu gehört, dass beispielsweise Teilzeitarbeit anders gedacht wird. Es ist verständlich, dass es in manchen Branchen schwierig ist, wenn jemand nur von Montagmorgen bis Mittwochabend erreichbar ist und dann vier Tage lang keine E-Mails liest. Oder dass ein Team, bei dem manche Personen nur einen (oder gar keinen) gemeinsamen Arbeitstag haben, nicht so gut zusammenarbeiten kann. Teilzeitarbeit geht aber auch anders: Ich könnte ein 60-Prozent-Pensum beispielsweise mit einem ganzen und vier halben Arbeitstagen umsetzen. Das Unternehmen hätte den Vorteil, dass ich jeden Tag zumindest teilweise erreichbar bin. Für mich könnte attraktiv sein, dass ich jeden Tag mit meiner Arbeit weiterkomme und gleichzeitig die Freiheit habe, an vier Nachmittagen zuhause zu sein für die Kinder.
Auch für die externe Kinderbetreuung wäre mehr Flexibilität wünschenswert: Die existierenden Angebote sind fast ausnahmslos alle auf Personen ausgerichtet, die jede Woche gleich arbeiten und jeweils ganztägige Betreuung benötigen. Krippen mit Halbtagesbetreuung haben Seltenheitswert, ebenso solche, bei denen man die Kinder unkompliziert für gewisse Tage an- und abmelden kann. Eltern brauchen aber immer wieder einmal spontan Kinderbetreuung; solche Angebote fehlen.
Natürlich bedingen flexiblere Arbeits- und Betreuungsmodelle gewisse Umstellungen für alle Beteiligten. Vielleicht müssten Dienstpläne neu auch halbe Schichten vorsehen; in anderen Branchen könnte Remote Work als Möglichkeit dazukommen, wo das sinnvoll ist. Die wichtigste Flexibilität ist aber vielleicht die gedankliche, bei der wir uns vom binären Modell (Arbeitstage vs. Freitage) lösen und stattdessen kurzfristig zwischen unseren Rollen wechseln.
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These 2: Vereinbarkeit braucht Mut zur Lücke
In Debatten rund um Vereinbarkeit schwingt oft die Erwartung mit, dass doch eigentlich absolute Vereinbarkeit möglich sein sollte – wenn denn nur die Strukturen besser, der Staat familienfreundlicher und die Gesellschaft weniger sexistisch wären. Ich will dabei überhaupt nicht bestreiten, dass die Verhältnisse besser sein könnten (und hätte mich durchaus über mehr Vaterschaftsurlaub gefreut als die 2 Tage, die ich damals erhielt). Bessere Strukturen werden mir aber nur helfen, eine der oben beschriebenen Strategien anzuwenden – etwa durch ein besseres Betreuungsangebot oder die Möglichkeit, flexibel zu arbeiten. Das Grundproblem bleibt dennoch, dass Vereinbarkeit immer Kompromisse mit sich bringt. Sobald ich mehrere anspruchsvolle Rollen habe, kann ich nicht mehr alle perfekt ausüben. Das scheint banal, aber ist doch wichtig, sich immer in Erinnerung zu rufen.
Es ist aber nun auch nicht weiter schlimm, wenn ich in gewissen Rollen eher zum Mittelfeld gehöre. Es erstaunt nicht, dass viele Personen ohne Kinder mehr Zeit haben als ich, um die Chorstücke perfekt einzustudieren. Und dass jemand, der weniger Stellenprozenten arbeitet als ich, tendenziell mehr Musse hat, um die Fenster regelmässig zu putzen. Mir persönlich ist es aber wichtiger, in vielen verschiedenen Rollen mitmachen zu können.
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These 3: Vereinbarkeit braucht Vertrauen.
Vereinbarkeit funktioniert besser, wenn ich in den verschiedenen Lebensbereichen Vertrauen aufbaue. Es wird immer wieder vorkommen, dass ich mich zwischen zwei Aktivitäten entscheiden muss. Vielleicht ist der Elternbesuchsmorgen zeitgleich wie der Workshop mit der Geschäftsleitung, in dem die neue Marketingstrategie besprochen wird. Egal, was ich mache, werde ich jemanden enttäuschen. Alle Strukturen der Welt können mir hier nicht helfen. Hier ist nun sehr wichtig, dass die Menschen in den verschiedenen Lebensbereichen glauben, mir vertrauen zu können. Ein solches Vertrauensverhältnis wird auch psychologische Sicherheit genannt.
Wenn ich an einem Morgen spontan nicht arbeiten kann, weil meine Kinder mich brauchen, ist dies nie ein Problem für meine Vorgesetzten, weil sie darauf zählen können: (a) Ich mache das nur dann, wenn es wichtig ist (und nehme nicht mehrere Betreuungstage, weil meine Kinder einen Schnupfen haben), und (b), wenn es etwas Dringendes gibt, werde ich es so bald wie möglich erledigen, auch wenn dies am Abend oder am Wochenende ist. Umgekehrt wissen meine Kinder, dass ich Meetings während der Kinderbetreuungszeit nur dann mache, wenn es nicht anders geht.
Vereinbarkeit bedingt also immer ein Geben und Nehmen der involvierten Parteien. Je mehr Vertrauen da ist, desto eher kann ich mit Zugeständnissen und Verständnis rechnen. Und desto höher ist die Chance, dass die verschiedenen Rollen je ihre dringenden Bedürfnisse stillen können. Und dass sie umgekehrt auch bereit sind, auf meine stetige Präsenz zu verzichten.
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Vereinbarkeit ist für mich nicht etwas, das funktioniert oder nicht; sie ist auf einem fliessenden Spektrum anzusiedeln, stets oszillierend zwischen Erfolg und Desaster, und jeder Tag kann wieder anders sein. Für mich ist es hilfreich, wenn sich meine Rollen flexibel zeigen, wenn ich den Mut zur Imperfektion finde, und wenn ich Vertrauen erleben darf.
Natürlich bleibe ich dabei innerhalb meiner kleinbürgerlichen Welt und optimiere ein gegebenes System. Vielleicht gäbe es Systeme, in denen Vereinbarkeit so selbstverständlich ist, dass sie sich niemand erstreiten müsste. Etwa solche, bei denen Menschen ihre Kinder zur Arbeit mitbringen. Oder eine, in der sich grössere Gemeinschaften zusammenschliessen, Carework unter sich aufteilen und von Synergien profitieren. Wir haben eine Zeitlang so etwas gemacht, als wir erst ein Kind hatten und einen Betreuungstausch mit unseren Nachbarn organisierten. Als sie und wir mehr Kinder hatten, konzentrierten wir uns dann wieder stärker auf unsere Kernfamilie.
Zuletzt scheint mir wichtig, dass ich die verschiedenen Rollen – und insbesondere Arbeit und Familienleben – nicht nur als komplementäre und einander konkurrierende Lebensbereiche ansehe. Alle meine Rollen sind für mich wichtige Teile meines Lebens und ihre Kombination macht mich zu der Person, die ich bin. Vereinbarkeit ist in dem Sinn kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit für mich, damit ich sein kann, wer ich bin.