Bevor ich Kinder hatte, war eine meiner grossen Sorgen, dass sie sich für Dinge interessieren könnten, die mir selbst ein Gräuel sind. Was, so dachte ich, wenn meine Tochter L. unbedingt einem Fussballclub beitreten möchte? Wenn mein Sohn A. eine Leidenschaft für Schweizer Volksmusik entwickelt? Wenn I., die jüngere Tochter, eine Vorliebe für Pilze hegt? Natürlich wollte ich, dass meine Kinder ihre eigenen Interessen und Leidenschaften entwickeln, aber gleichwohl hatte ich die unbestimmte Furcht, diese könnten sich stärker von meinen eigenen wegbewegen, als mir lieb ist.
Inzwischen sind die Kinder alt genug, um Vorlieben und Abneigungen zu vokalisieren, und ich durfte feststellen, dass meine grössten Befürchtungen völlig grundlos waren: Keines der Kinder mag Fussball, bis jetzt wollen sie nur klassische Musik hören und auch Pilze sind grundsätzlich unbeliebt.
Was ich mir aber nicht hätte ausdenken können, ist die Wachsphase. Völlig unerwartet kam sie nicht, denn es ist nicht das erste Mal, dass sich unser Sohn A. exzessiv mit etwas beschäftigt. Bereits als Dreijähriger ordnete er obsessiv Haushaltsgegenstände zu Kunstwerken an und klaubte die Anti-Rutsch-Punkte vom Plastikhocker, um sie seiner Meinung nach an passendere Orte zu kleben. Mit zunehmendem Alter vergrösserte sich die Reichweite seiner Interessen. Während seiner Pflanzenphase war unser Balkon bedeckt von Dutzenden kleiner Töpfe mit allerlei Sämlingen (A. nannte es seine «Baumschule»). In der Elektronikphase gab es fast täglich Diskussionen darüber, wie viele kaputte Geräte A. von der Strasse nach Hause bringen dürfe; der Keller ist immer noch gefüllt mit kaputten Mixern und Radios, Kabeln, Leiterplatten, Kondensatoren und Dioden.
Nun also die Sache mit dem Wachs. Vor ein paar Wochen hat A. nämlich entdeckt, dass es im Friedhof, neben dem wir wohnen, regelmässig ausgebrannte Grabkerzen in den Mülleimern gibt. Diese Plastikbehälter enthalten oft noch einen kleinen Wachsrest, und mit diesem – so hat sich herausgestellt – lässt sich Interessantes anstellen. A.s derzeitiges Hobby besteht nun also darin, dass er solche Kerzenbehälter sucht, den Wachs rauskratzt, ihn auf dem Herd verflüssigt und ihn zu grossen Blöcken zusammenschmilzt. Mittlerweile hat er in seinem Schrank eine stolze Sammlung von Wachsblöcken in den unterschiedlichsten Farbtönen. Wir hoffen, die Grablichter kommen nicht direkt von den Gräbern. Dass unser Sohn den Friedhofsmüll durchsucht, erscheint uns dabei irgendwie als das kleinere Übel.
Meist beginnen seine Phasen harmlos; zuerst brachte er nur ein paar Grabkerzen nach Hause. Mittlerweile gehören zur Ausrüstung diverse Säcke mit Wachsresten, ein eigener Topf, um den Wachs zu schmelzen, und diverse Behälter als Gussformen. Die Kerzen kommen übrigens in allen Formen und Ausstattungen zu uns: von leicht gotischen Metalldekorationen bis hin zu Plastikschnickschnack, der irgendwo zwischen fröhlicher Bastelei und dreckverschmierter Zombie-Todesshow angesiedelt ist. Letzte Woche hielt A. eine Plastikschachtel in Form eines Kruzifixes hoch und fragte, ob wir glauben, dass sie eine gute Spardose abgeben würde. Habe ich schon erwähnt, dass einige der Kerzen parfümiert sind?
Und A. hat grosse Pläne, sein Hobby noch auszubauen: Letzte Woche hat er sich aus ein paar alten Kofferrädern, einem Brett, einem Stab und etwas Hilfe von seiner Grossmutter eine Art kleinen Wagen gebaut. Als ich ihn fragte, wozu die Vorrichtung diene, erklärte er mir, dass sie ihm bei seinen Runden durch den Friedhof helfen werde, die leeren Kerzen zu transportieren, damit er mehr Material aufs Mal mitnehmen könne.
Wir dürfen also erwarten, dass die Wachsphase noch eine Weile andauert. Der Wohnzimmerboden wird weiterhin von Dutzenden leerer Grabkerzen bedeckt sein, die Küchenablage mit Wachskrümeln übersät, der Balkon voll von unbrauchbaren Teilen. Und A. wird am Herd stehen und in seinem geschmolzenen Wachs rühren. Natürlich frage ich mich oft, was in seinem Kopf vorgeht: Woher hat er diese Ideen und warum verbringt er so viel Zeit mit einem so seltsamen und scheinbar sinnlosen Hobby. Gleichzeitig fühle ich auch eine gewisse Bewunderung für ein Kind, dem egal ist, was die anderen denken, und das sich mit so anderen Dingen beschäftigt als die meisten seiner Klassenkameraden und, vor allem, als ich es je befürchtet hätte.
Natürlich bin ich vor allem gespannt, was die nächste Phase sein wird. Zwar wird der Nachschub an Grabkerzen so schnell nicht abreissen, aber bisher hat sich gezeigt, dass A. sich nach geraumer Zeit etwas Neuem zuwendet. Bis dahin aber werden mich die Wachsreste auf dem Tisch und die leeren Kerzenbehälter noch eine Weile begleiten.
Text von Alex Schindler, er ist Kolumnist bei Geschlechtergerechter
7.04.2025