Manchmal spiele ich mit Freund*innen das Spielchen «Ich oder Du». Das geht ganz einfach: Eine Person aus der Gruppe stellt eine Frage und zwei andere antworten bezogen aufeinander mit «ich» oder «du». Dazu benutzen wir die Streichholzschächtelchen, die ein grosses Kaffeehaus verschenkt: Auf der einen Seite der Streichholzschachtel steht gross ICH, auf der Rückseite gross DU (geht auch ohne Streichholzschachtel, nur mit Fingerzeigen).
Kürzlich hat eine dieser Fragen zu einer erregten Diskussion geführt. Eine Person mit Vulva und eine Person mit Penis wurden gefragt: Wer von euch beiden hat beim Sex mehr Orgasmen? Bevor die beiden auch nur den Anschein erwecken konnten, mit «ich» oder «du» zu antworten, wurden lautstark die wildesten Thesen in den Raum geworfen: «Die Frage ist doch überflüssig, klar hat er mehr Orgasmen»; «Ich würd’s ja gern andersrum haben, aber Frauen kommen eben seltener»; «das ist jetzt so eine Frage, wo alle die Antwort schon kennen». But do we?
Zuerst die Auflösung, sie antwortete mit «ich», er auch. Auch das sorgte für weiteren wilden Gesprächsstoff: «Was? Du hast mehr Orgasmen als er?» Ich würde sagen, sie hat tatsächlich mehr Orgasmen als er, oder sie könnte es zumindest. Fakt ist, dass Penisse nach dem Samenerguss eine sogenannte Refraktärphase haben, das heisst, der Penis muss sich nach einem Orgasmus erholen, er kann rein physiologisch nicht sofort nach dem Orgasmus einen weiteren haben. Is nich.
Die Klitoris (bitte Bilder googeln, danke) hingegen schon: Sie kann - muss aber nicht - fröhlich mehrfach vor sich hin orgasmieren. Multiple Orgasmen, Baby! Boom, bäm, inyaface (auch lustig). Denn, rein physiologisch gesehen, folgt auf das erste Oooh keine Refraktärphase und es könnten gleich darauf unzählige weitere Ooohs folgen. Könnten. Zumindest in der Theorie: Menschen mit einer Klitoris könnten einen deutlichen Orgasmus-Vorsprung gegenüber Menschen mit einem Penis haben. In der Praxis sieht die Sache allerdings ganz anders aus: Unsicherheiten, weibliche (sexuelle) Sozialisation, verzerrte Vorstellungen von Sex und mangelnde Masturbation sind nur eine kleine Auswahl, weshalb Theorie und Praxis hier weit auseinander liegen. Vor allem der letzte Punkt, zu wenig oder keine Masturbation bzw. Selbstbefriedigung, scheint mir in der weiblichen Sexual-Sozialisierung ganz entscheidend zu sein: Wer im Solo-Sex nicht herausgefunden hat, was dem eigenen Körper Lust bereitet, wird es zu zweit oder zu mehreren vermutlich erst recht nicht herausfinden. Also: Solo erkunden, dann mit anderen. Ich weiss nicht, wer das jetzt braucht, aber hier ist es (bitte ausdrucken, ausschneiden und gut sichtbar irgendwo hin kleben): Lizenz zum Masturbieren
Damit beim nächsten Mal, wenn die Orgasmus-Frage gestellt wird, alle sagen werden, das ist jetzt so eine Frage, wo alle die Antwort schon kennen: Die Person mit Klitoris hat die meisten Orgasmen!