Die britische Miniserie «Adolescence» ist in aller Munde. Sie handelt von toxischer Männlichkeit und Mobbing und zeigt auf, was im schlimmsten Fall resultieren kann: Der 13-jährige Jamie Miller, toll gespielt von Owen Cooper, wird verdächtigt, seine Mitschülerin Katie ermordet zu haben. Die Polizist*innen können den Tathergang präzise rekonstruieren, denn es existiert ein CCTV- Überwachungsvideo des Parkplatzes, auf dem der Junge auf sein Opfer eingestochen hat. Jamie beteuert in den Verhören vorerst jedoch seine Unschuld. Den Polizist*innen fehlt zudem ein Motiv. Doch die Beweislage ist erdrückend. Folglich geht die Serie vier Folgen lang der Frage nach, was den 13-jährigen Teenager zum Mord an einem gleichaltrigen Mädchen getrieben haben könnte.

Adolescence
Bei Gesprächen mit der Psychologin erzählt Jamie, von Katie als «Incel» bezeichnet und in den Sozialen Medien gemobbt worden zu sein.
Bei Gesprächen mit der Psychologin erzählt Jamie, von Katie als «Incel» bezeichnet und in den Sozialen Medien gemobbt worden zu sein. «Incel» steht für «involuntary celibates», also Männer, die ungewollt zölibatär leben. Der Begriff steht mittlerweile für eine Art Ideologie, die Frauen die Schuld dafür zuweist, dass manche heterosexuelle Männer keinen Sex bekommen. Incels vertreten ein entsprechend frauenfeindliches und misogynes Gedankengut.
Die Miniserie ist grandios gemacht und die Schauspieler*innen zeigen herausragende Leistungen. Jede Episode der Serie ist durchgehend als einzige Szene gedreht, ein sogenannter One-Shot. Dadurch werden die Inhalte intensiver vermittelt und kratzen beim Publikum an der Grenze des Aushaltbaren. Insbesondere die grandios gespielte und intensive Szene, als Jamie der Psychologin gegenübersitzt, darf hier nicht unerwähnt bleiben. Die Psychologin, die sich eine unabhängige Meinung über den Täter bilden soll, zoomt dabei eindrücklich in die Psyche von Jamie. Dieser reagiert im Gespräch mit der Psychologin aggressiv und gekränkt. Nicht nur die Psychologin bekommt es zuweilen mit der Angst zu tun, sondern auch die Zuschauenden.
Bei wackeliger Kameraführung ist man dabei, wie schwer bewaffnete Polizisten frühmorgens das Wohnhaus der Familie Miller stürmen.
Zum Auftakt der Serie ist man bei wackeliger Kameraführung dabei, wie schwer bewaffnete Polizisten frühmorgens das Wohnhaus der Familie Miller stürmen. Jamie liegt noch im Bett und nässt sich vor Angst ein. Die Familie ist ahnungslos und reagiert verzweifelt auf die Abführung des erst 13-jährigen Jamie. In der vierten Folge thematisiert Adolescence den Umgang der Eltern von Jamie mit dem monströsen Mord, der ihrem Sohn vorgeworfen wird. Die Eltern machen sich Vorwürfe und fragen sich, wo ihre Verantwortung liegt. Berührend ist eine Szene, die deutlich macht, wie gross ihre Verzweiflung ist und auch ihre Schuldgefühle. Sie wähnten Jamie, der abends oft in seinem Kinderzimmer blieb, in Sicherheit. Die Vermutung liegt nahe, dass sich Jamie dort in den Sozialen Medien herumtrieb und radikalisiert wurde.
Was in der Serie fehlt, ist die Perspektive des Opfers. Diese wird gar nicht thematisiert. Einzig Katies beste Freundin wird vom Polizistenduo an der Schule kurz befragt. Regisseur Jack Thorne hat das Drehbuch zusammen mit Stephen Graham, der in der Serie auch die Rolle von Jamies Vater spielt, geschrieben. In einem Interview mit «The Guardian» sagte er, dass es eine bewusste Entscheidung war, das elterliche Umfeld des Täters nicht zu beschuldigen. Zu Beginn der Arbeit am Drehbuch stand offenbar auch nicht fest, weshalb Jamie seine Mitschülerin Katie töten würde. Erst eine Mitarbeiterin des Autorenteams hätte dann die Incel-Ideologie vorgeschlagen.
Die Frage stellt sich, weshalb die männlichen Drehbuchautoren diese Idee nicht selbst hatten. Es ist nicht so, dass es keine realen Morde an Frauen durch sogenannte Incels gegeben hätte. Im Gegenteil: In den vergangenen Jahren kam es insbesondere in den USA immer wieder zu Ermordungen von Frauen durch Täter mit einem starken Bezug zur Incel-Community. Im Mai 2014 tötete beispielsweise der 22-jährige Elliot Rodger auf einem Campus in Kalifornien sechs Menschen und verletzte 14 weitere. Seine Motive waren unter anderem seine erfahrene sexuelle Zurückweisung durch Frauen. In verstörenden YouTube-Videos kündigte er seine Tat an und erläuterte sein frauenfeindliches Gesellschaftsbild: „If I can’t have you, girls, I will destroy you.“
Die Autorin und politische Bildnerin, Jo Lücke, hält in einem Blogbeitrag fest, dass es die Serie verpasse, patriarchale Strukturen in allen Lebensbereichen als Ursache für Frauenhass zu thematisieren. Die Macher der Serie, fast ausschliesslich Männer, legen den Fokus lieber darauf, die Sozialen Medien, also Technologie, an der Ermordung Katies durch Jamie in die Verantwortung zu nehmen. Korrekter wäre festzuhalten, dass die Technologie dabei hilft, frauenfeindliches Gedankengut zu verbreiten und zu vermitteln. Frauenhass gibt es jedoch schon sehr viel länger als es Soziale Medien und das Internet gibt.
Die Serie brach innert kürzester Zeit diverse Rekorde, in Grossbritannien ist sie bereits die meistgesehene Streamingserie aller Zeiten. Nach der Veröffentlichung Mitte März löste Adolescence eine Debatte über Frauenfeindlichkeit und Femizide aus, die bis in höchste Ebenen der Politik hinein reicht. Der britische Premierminister Keir Starmer gab bekannt, die Serie mit seinen Söhnen geschaut zu haben und möchte Adolescence künftig als Schulstoff einsetzen.
Es bleibt zu hoffen, dass die beeindruckend gespielte und produzierte Netflixserie eine Debatte anstösst, die das Thema Frauenhass und die damit verbundene toxische Männlichkeit ernst nimmt und zu einer Sensibilisierung und auch zur Prävention beiträgt.
Text von Laura Schwab, sie ist Autorin bei Geschlechtergerechter.
30.04.2025