Agota Strukturen – Buchkritik

Warum Täter frei herumlaufen

Jede_Frau: Ein Buch über eine Gesellschaft, die systematisch Täterschutz betreibt

Content Warnung: Sexualisierte Gewalt

«Die Frage ist nicht, ob eine Frau irgendwann sexuell belästigt wird, sondern bloss wann und wo und von wem», schreibt Agota Lavoyer, Expertin für sexualisierte Gewalt. In ihrem 2024 erschienenen Buch Jede_ Frau macht sie die Allgegenwärtigkeit sexualisierter Gewalt sichtbar und lässt uns diese als «eine globale Krise» erkennen. Sexualisierte Gewalt versteht Lavoyer als Kontinuum, verbale sexuelle Belästigung ist ebenso Teil davon, wie körperliche Übergriffe es sind. Denn: «Männer dominieren mit Catcalling ebenso ihren Anspruch auf Frauen wie mit einer Vergewaltigung».

Lavoyer zitiert erschütternde Statistiken: In der Schweiz, in Deutschland und in Österreich haben zwei Drittel aller Frauen bereits sexualisierte Übergriffe erfahren, deren Ausmass strafrechtlich relevant ist. Zwei Drittel aller Frauen. Das sind zwei Drittel zu viel. Der Fakt, dass diese Erfahrungen gar strafrechtlich relevant sind, ist nicht zu unterschätzen. Sexualisierte Gewalt hat einen schweren Stand in unserem Rechtssystem. Lavoyer spricht von sexualisierter Gewalt gar als «risikoarmes Delikt». Eine Studie aus Deutschland bestätigt dies: Nur eine von 100 Frauen, welche vergewaltigt werden, erlebt die Verurteilung des Täters, welcher in den allermeisten Fällen übrigens männlich ist. An dieser Stelle zitiert Lavoyer den Kriminologen Prof. Christian Pfeiffer: «die Situation für betroffene Frauen in einem Sexualstrafverfahren sei ‘eines Rechtsstaats nicht würdig’».

«Wir werden sexualisiert, objektifiziert, belästigt, abgewertet, vergewaltigt und umgebracht – weil wir Frauen sind, weiblich gelesen werden oder weil wir uns ausserhalb der binären Logik befinden.»

Agota Lavoyer

Wie kann das sein? Wieso kennen wir alle ein Opfer aber keinen Täter? Wieso wird diese allgegenwärtige Gewalt nur allzu oft verharmlost und verschwiegen? Wieso?

Spoiler: Das alles hat laut Lavoyer System. Diesem System zugrunde liegt die sogenannte Rape Culture, eine «Kultur der sexualisierten Gewalt». Dabei wird sexualisierte Gewalt, die in allen sozialen Schichten vorkommt, von der Gesellschaft toleriert, ignoriert oder verharmlost. Diese Kultur ist dafür verantwortlich, dass in der medialen Berichterstattung über sexualisierte Gewalt die Perspektive der Täter viel mehr Gehör bekommt als diejenige der Opfer. In Zürich sind neun von zehn Frauen im öffentlichen Raum schon mal sexuell belästigt worden. Doch statt die Täter zur Verantwortung zu ziehen, lehren wir Frauen das Fürchten. Wir erteilen ihnen Ratschläge, wie sie sich im öffentlichen Raum verhalten, kleiden, aufhalten sollen, um ja nicht zu einem Opfer zu werden. Das alles, statt die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Auch das ist Rape Culture. Genauso wie der Vergewaltigungsmythos, dass die grösste Gefahr der dunkle Park und der fremde Mann seien. Dabei ist das Gegenteil der Fall, wie eine EU-Weite Datenerhebung zeigt: 77 Prozent der dort befragten Frauen kannten den Täter bereits vor der Tat. Dies bestätigt auch das Schweizer Crime Survey von 2022, welches Lavoyer in ihrem Buch zitiert: Drei Viertel aller Opfer kannten den Täter bereits vor der Tat. Sexualisierte Gewalt wird also meist in privaten Räumen ausgeübt und nicht in einer dunklen Gasse oder nachts im Park. Diese Vergewaltigungsmythen halten sich hartnäckig, obwohl sie mehrfach wissenschaftlich widerlegt wurden. Das Resultat: Betroffenen wird allzu oft nicht geglaubt, wenn sie von ihren Erfahrungen berichten, weil diese eben in den meisten Fällen nicht dem Narrativ ‘fremder Mann vergewaltigt Mädchen im Park’ entsprechen. Will heissen: Die allermeisten Täter werden nicht als solche anerkannt und laufen frei herum. All das ist nicht nur fester Bestandteil der Rape Culture, sondern reproduziert diese sogleich. Wenn wir als Gesellschaft einem Täter eher Glauben schenken als einem Opfer, wenn wir das Verhalten von Frauen als Kriterium dafür betrachten, ob sie von sexualisierter Gewalt geschützt sind oder nicht und wenn wir uns an den wissenschaftlich widerlegten Vergewaltigungsmythen festklammern, dann betreiben wir letzten Endes Täterschutz. Und damit tragen wir als Gesellschaft zur Reproduktion der Rape Culture bei. Lavoyer folgert: Die Rape Culture ist ein strukturelles Problem, welches eine strukturelle Lösung erfordert.

«Wenn Männer so viel Macht haben, dass sie in dem Ausmass sexualisierte Gewalt ausüben können, dann haben sie auch die Macht, sexualisierte Gewalt zu beseitigen.»

Agota Lavoyer

Jede_ Frau ist ein augenöffnendes, hässig machendes, aufwühlendes und verbindendes Buch, das Jeder_ Mensch lesen sollte. Insbesondere Jeder_ Mann.

Foto von Agota Lavoyer: Raphaela Graf

Am 30.9. erscheint übrigens das neue Buch «Ermutigt» von Agota Lavoyer und Sim Eggler.