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Krieg, Gewalt und Gender

Wer kämpft, wer flieht und wer wird in einem Krieg zum Opfer? Das steht im direkten Zusammenhang mit dem Geschlecht.

Triggerwarnung: sexualisierte Gewalt

Seit Russlands Angriff auf die Ukraine ist der Krieg für uns in Europa wieder sehr präsent. Debatten um Aufrüstung, Wehrpflicht und Verteidigungsfähigkeit sind allgegenwärtig. Und das unermessliche Leid der palästinensischen Bevölkerung begleitet uns täglich auf den Sozialen Medien.

Krieg ist nicht geschlechtsneutral

Doch was haben diese Themen mit gender zu tun? Alles. Denn wie Kriege geführt werden, wer kämpft, wer flieht oder wer Opfer wird – all das steht im direkten Zusammenhang mit dem Geschlecht und der Geschlechtszugehörigkeit.

Männer werden vor allem als Soldaten rekrutiert, deren Leben im Dienste des Vaterlandes als verzichtbar betrachtet wird. Frauen gelten im Krieg meist als Opfer oder „schutzbedürftige Zivilbevölkerung“. Um Krieg wirklich zu verstehen, müssen wir auch verstehen, welche Rolle gender – also gesellschaftliche Vorstellungen von Geschlecht – dabei spielt.

Geschlecht ist nicht als harmlose persönliche Identität zu begreifen, sondern als ein soziales Konstrukt, dem Machtstrukturen zugrunde liegen.

Anaïs Treadwell

Geschlecht ist als soziales Konzept immer mit Macht und Ungleichheit verbunden. Gender wirkt dabei gemeinsam mit anderen Ungleichheiten – wie sozialer Klasse, Hautfarbe (race), Alter, Religion, Behinderung oder sexueller Orientierung – und beeinflusst, wie Menschen in unserer Gesellschaft behandelt und bewertet werden.

Eine gender-analytische Perspektive zeigt auf, wie (Geschlechts)identitäten Kriege formen und selbst von ihnen geformt werden. Dadurch können wir besser verstehen, wer wie und warum von Krieg betroffen ist. Erst eine Sensibilität für Gender schafft Raum für eine kritische Erinnerungskultur und die Dekonstruktion von Kriegsideologien.

Frauen als Nationen

Viele Länder haben als nationales Symbol eine Frauenfigur: In der Schweiz ist es Helvetia, in England Britannia, in Italien ist es die gekrönte Italia und in Frankreich Marianne, die die Französische Revolution anführt.

Diese Verkörperung der Nation in einer weiblichen Figur ist nicht zufällig, sondern widerspiegelt ein gegendertes, binäres Denken: Die Nation wird als Frau und somit als kostbarer Besitz verstanden, die von einer männlichen Armee und einem verteidigungsfähigen Staat beschützt werden muss. Frauen gelten dabei als (Re)produzentinnen und Trägerinnen der nationalen Identität. In ihren Körpern entsteht «das Volk von morgen». Die Ableitung daraus ist die, dass die Kontrolle über den Frauenkörper notwendig ist, um das Fortbestehen der Nation zu sichern.

«La liberté guidant le peuple», «Die Freiheit führt das Volk» von Eugène Delacroix, 1830.

Sexualisierte Gewalt als Kriegsstrategie

Im Kriegsfall werden die Kontrolle und Besitznahme der Frauen(körper) der angegriffenen Gruppe oder Nation ein strategisches Ziel. Im Verständnis von ‘Frau = Land’ werden Vergewaltigungen von Frauen bewusst als Kriegsmittel eingesetzt.

Denn im Krieg greifen Kriegsparteien nicht nur Menschen an, sondern auch die Geschlechterordnung. Die Machtstruktur «Gender» wird als Waffe benutzt. Im Krieg verübte sexuelle Gewalt an Frauen schädigt nicht nur die betroffenen Frauen direkt, sondern erniedrigt indirekt auch ‘ihre’ Männer. Weil sie in ihrer naturgegebenen Rolle als starke Beschützer der Frau versagt haben, wird auch die Männlichkeit der Angegriffenen in Frage gestellt.

Im Extremfall setzen Kriegsparteien Massenvergewaltigungen gezielt als Mittel des Genozids ein. Quellen belegen, dass im Bosnienkrieg (1992-1995) serbische Soldaten systematisch zehntausende bosnische Frauen vergewaltigt und geschwängert haben mit der Absicht, die bosnische Bevölkerung auszulöschen. Mittels Zeugung von Kindern zwischen serbischen Soldaten und bosnischen Frauen sollte das «reine» bosnische Volk in seinem Fortbestehen geschwächt werden. Diese grausame Strategie funktioniert auf Grund der patriarchalen Vorstellung, dass ein neugeborenes Kind zur ethnischen oder nationalen Gruppe des Vaters gezählt wird – und nicht zu der der Mutter.

Der Mann als Bürger, der Mann als Soldat

Die männliche Identität ist seit jeher stark an den Militärdienst gekoppelt: Ein guter Bürger ist auch ein Soldat und übernimmt Verantwortung für den Schutz seines Landes, seiner Frauen und deren Ehre. Männer werden aufgrund ihres Geschlechts als Soldaten in den Krieg geschickt. Ihr Leben gilt in diesem Moment nicht als schützenswert, sondern wird dem Wohle der Nation untergeordnet. So dürfen beispielsweise wehrpflichtige ukrainische Männer seit dem Sommer 2024 nicht mehr aus der Ukraine ausreisen.

Der Militärdienst gilt als ein Ort der Erziehung und Disziplinierung, der aus Burschen ‘richtigen Männer’ macht.

Anaïs Treadwell

Männer müssen im Krieg ihr Land verteidigen, werden dabei aber als Soldaten zu Kriegsopfern. Nicht nur ihre Körper werden im Krieg angegriffen – auch ihre Männlichkeit.

Im Krieg kann sexuelle Gewalt auch gegen Männer eingesetzt werden, um deren ‘Männlichkeit zu brechen’. Diese Kriegsgewalt wird allerdings kaum je benannt, weil Männer nicht als typische Opfer betrachtet werden und das Thema für Männer besonders stark stigmatisiert ist. Gemäss aktuellen Informationen seitens der UNO ist etwa die sexuelle Gewalt an meist männlichen Kriegsgefangenen ein fester Bestandteil der israelischen Kriegsführung gegen die palästinensische Bevölkerung.

Feindbild: ‘Der böse Mann’

Feindbilder und Kriegssymbolik leben von Genderstereotypen. Der gegnerische Soldat wird als „hyper-männlich“ dargestellt – aggressiv, skrupellos, gewalttätig, frauenfeindlich. Das wiederum rechtfertigt das harte Vorgehen gegen ihn im Krieg. Solche Narrative instrumentalisieren verbreitete Rollenbilder der Geschlechter. Das Bild des ‘bösen, gewalttätigen Mannes’ wird daher auch in Friedenszeiten aufrechterhalten. Es dient dazu, gewisse Gruppe von Männern als Feindbild zu sehen und in ein schlechtes Licht zu rücken. Beispielsweise die vielen jungen Männer, die aus Afrika oder Zentralasien nach Europa flüchten.

FrauenundKinder: Wer gilt als Opfer?

Während Männer pauschal als Aggressor oder als Beschützer betrachtet werden, gilt für Frauen das Umgekehrte: Auch erwachsenen Frauen wird eine kindesartige Unschuld zugestanden und in Konflikten werden sie zusammen mit den Kindern und anderen schwachen Bevölkerungsgruppen zur Kategorie «FrauenundKinder» (womenandchildren) zusammengedacht.

Die Expertin zu Militarisierung und Geschlecht, Cynthia Enloe, kritisiert, dass diese Kategorie über eine binäre Vorstellung funktioniere, die auf der einen Seite Männer als stark, aktiv und aggressiv darstelle, während Frauen auf der anderen Seite als schwach, passiv, unschuldig und schützenswert verstanden werden.

Umso heftiger fallen die Reaktionen aus, wenn im Krieg auch Frauen zu Täterinnen werden. So war die Welt schockiert, als im Jahr 2004 Aufnahmen von amerikanischen Soldatinnen an die Öffentlichkeit gelangten, die diese dabei zeigen, wie sie im Irak Häftlinge folterten.

Lynndie England hd

Lynndie England, das Gesicht des Skandals rund um das US-amerikanische Foltergefängnis Abu Ghraib.

Gleichzeitig wird aber die Grausamkeit eines militärischen Konfliktes häufig anhand der Opferzahl der FrauenundKinder gemessen – so wie derzeit in Gaza. Der Tod von Frauen und vor allem Kindern ruft emotionalere Reaktionen hervor, während der Kriegstod von Soldaten schlicht als ‘normal’ gilt.

Krieg ist keine vorübergehende Angelegenheit. Und wer Krieg verstehen will, muss auch verstehen, wie tief Geschlechterrollen in Gewalt, Macht und Erinnerung eingreifen.

Text von Anaïs Treadwell, sie ist Autorin bei Geschlechtergerechter


03.07.2025