Der Besuch durch die neue Stapferhaus Ausstellung beginnt in einem weissen Zimmer. „Händ Sie s’Formular scho usgfüllt?“ spricht uns eine weitere Museumsgängerin an. Ich lande gedanklich direkt im Wartezimmer einer Hausärztin und fragt mich: Hätte ich noch etwas vorbereiten müssen oder bin ich im falschen Raum gestartet? Zum Antworten bleibt keine Zeit, denn es erklingt eine Stimme, die uns auffordert, den nächsten Raum zu betreten.
Gewappnet mit einem Bleistift und einem „Persönlichen Journal“ – ein kleines Anleitungsheft, welches als Orientierung und Notizbuch dienen soll – führt mich die Ausstellung „Hauptsache Gesund - Eine Ausstellung mit Nebenwirkungen“ während der nächsten Stunden durch fünf Abteilungen, die einer medizinischen Chronologie folgen: die Untersuchung, die Diagnose, die Behandlung, der Notfall und der Austritt.
Untersuchung: Wie geht es dir heute wirklich?
Im Raum Untersuchung wird der oft gestellten Frage „Wie geht es dir?“ nachgegangen, die wir häufig, ohne uns Gedanken zu machen, zur Begrüssung stellen. Doch sind wir auch bereit, anderen aufrichtig zu antworten und zuzuhören, wenn die Antwort von einem „Gut, danke“ abweicht? Genau dies wird in der Ausstellung aufgegriffen. Die Besuchenden werden aufgefordert, sich kritisch zu hinterfragen und ehrlich mit sich selbst zu sein.
Diagnose: Woher weisst du, ob du krank oder gesund bist?
Weiter geht’s zur Diagnose. Im Ausstellungsraum sind unzählige Fachbegriffe und Namen mir unbekannter Krankheitsbilder in weisser Schrift an schwarzen Wänden angebracht. Videobotschaften vermitteln Lebensrealitäten von Menschen, die sich mit dem Thema Diagnose(n) auseinandersetzen. So erzählt eine Patientin in einem der Videos, wie ihre Diagnose eine Art Erleichterung gewesen sei, eine Bezeichnung für etwas, woran sie (nicht) leidet. Eine Diagnose kann bei manchen dazu führen, dass man sich mehr mit der eigenen Gesundheit auseinandersetzt oder mit sich selbst Frieden schliessen kann. Für andere birgt die Diagnose keine Erleichterung. Etwa dann, wenn keine genauen Prognosen gemacht werden können oder wenn gewisse Behandlungsmethoden nicht von der Krankenkasse übernommen werden.
Das „Persönliche Journal“ fordert mich in diesem Moment auf, mir folgenden Fragen zu stellen: Woher weiss ich, ob ich krank oder gesund bin? Ab welchem Ausmass an Beschwerden ist es mit der gefühlten Gesundheit vorbei? Und wenn Gesundheit mehr als nur die Abwesenheit von Krankheit ist, was braucht es dann sonst noch alles?
Behandlungen: Was macht dich gesund?
Mit diesen Fragen im Kopf geht’s mit dem Lift zur nächsten Station; die Behandlungen stehen an. Im Ausstellungsraum werden Videos von operativen Eingriffen gezeigt. Damit der Ton zu weiteren Videos zu Körper und Bewegung abgespielt wird, müssen die Besuchenden Sportübungen absolvieren. Statt Erklärtexte an den Ausstellungswänden finde ich vorwiegend audiovisuelles Material und Grafiken vor. Doch bei den vielen Grafiken fehlt mir die Thematisierung des dazugehörigen Diskurses rund um die Macht unserer Sprache. Wie beeinflusst unsere Sprache die Interpretation dieser Daten? Wie verstärkt oder schwächt die Art und Weise, wie wir Begriffe definieren und verwenden bestimmte Narrativen? Wie kann durch Sprache eine gewisse Interpretation oder Wertung gefördert werden? Das sind Fragen, welche mich noch lange nach der Ausstellung beschäftigen.
Notfall: Wer muss nun wie handeln?
Weitere Videoinstallationen und Informationsmaterial rund um die unbezahlte Pflegearbeit, hohen Gesundheitskosten, teuren Wellness Besuchen führen einem zum Notfall. Dort wird das Schweizer Gesundheitssystem operiert. Im Kollektiv mit anderen Museumsbesuchenden kann entschieden werden, welche Reformen an unserem Gesundheitssystem vorgenommen werden müssen.
Der Gesundheitsmarkt wächst stetig und verspricht, uns gesund zu machen, unsere Gesundheit zu erhalten und zu verbessern. Doch worauf vertrauen wir und nach welchen Mitteln greifen wir nach Bedarf? Die Besuchenden werden aufgefordert, sich folgenden Fragen zu stellen: Was steht mir überhaupt zu? Was ist uns unsere Gesundheit wert? Wer profitiert und leidet am meisten? Und welche Massnahmen müssten getroffen werden, um unser System zugänglicher und inklusiver zu machen? Antworten auf diese konkreten Fragen kommen in dieser Ausstellung jedoch zu kurz.
Nach wie vor ist ein Grossteil der Care- und Assistenzarbeit in der Schweiz mehrheitlich unbezahlt und wird von Frauen verrichtet, welche eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, in der Altersarmut zu landen. Auch das Risiko krank zu werden, hängt stark mit der (Lohn-)Arbeit, dem Einkommen und der Wohnsituation zusammen, was besonders bereits marginalisierte Menschen noch vulnerabler und kränker macht.
Andere Thematisierungen, welche die Auswirkungen von Rassismus, Ableismus und Diskriminierungen im Gesundheitsdiskurs thematisieren, tauchen nicht auf. Solch eine Ausstellung würde jedoch einen idealen Raum bieten, um beispielsweise unseren ständigen Drang nach der Optimierung unserer gesunden als auch kranken Körpern – besonders von Menschen mit Behinderungen – zu hinterfragen. Bea Albermann bringt all dies im Buch zur Ausstellung auf den Punkt: „Nur indem wir das System verändern, das uns krank macht, können wir langfristig gesund bleiben.“
Austritt: Wie gehts weiter?
Am Anfang der Ausstellung begleiten mich viele Fragen. Ich hege das Bedürfnis den Museumsbesuch allein zu bestreiten, meine Gedanken in Ruhe aufzuschreiben und mir besonders im Saal der Diagnosen genügend Zeit zu nehmen. Doch im letzteren Teil der Ausstellung bin ich froh um Begleitung. Verschiedene Sitzecken samt Stapeln an Diskussionsfragen laden dazu ein, mit einer Begleitperson dort zu verweilen und sich Zeit für einen persönlichen Austausch zu nehmen. Dabei kann je nach Beziehung und Interesse auf einer gesellschaftspolitischen oder persönlichen Ebene auf die verschiedenen Fragen eingegangen werden.
Und genau da wird mir klar, wie ich diesen Museumsbesuch für mich deuten möchte. Wir alle fühlen uns mit unserer Gesundheit und/oder Krankheit bisweilen allein, einsam und hilflos. Oft wird einem das Gefühl vermittelt, dass wir mit unseren Schmerzen, Sorgen oder Leiden die einzigen sind. Aber eigentlich ist genau das Gegenteil der Fall. Alle Menschen sind auf eine direkte oder indirekte Art und Weise irgendwann in ihrem Leben mal davon betroffen. Viel eher geht es darum, dass wir unsere Erfahrungen teilen dürfen und dies auch sollten. Das Problem ist nicht Krankheit an sich, sondern was wir als Gesellschaft daraus machen und was für einen Stellenwert wir ihr geben. Wir müssen unsere Sprache, wie wir über Gesundheit und Krankheit sprechen erweitern und entstigmatisieren. Gemeinsam kann Schmerz und die Last geteilt werden. Krankheit gilt es nicht nur individuell zu betrachten, sondern auch kollektiv. Und genau mit diesem solidarischen Gemeinschaftsgedanken müssen wir von nun an auch über unser Gesundheitswesen (neu)denken und sprechen. Somit ist diese Ausstellung einen guten Start für eine dringend anstehende Diskussion.