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Im Zweifel für Betroffene

Folgen sexualisierter Gewalt erfordern viel Kraft und Aufarbeitung. Doch eigentlich braucht es eine Gesellschaft, die diese Menschen auffängt.

Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es um sexualisierte Gewalt. Wenn dieses Thema für dich zu belastend ist, lies ihn bitte nicht oder in einem Moment, in dem du genug Kraft dafür hast. Hast du selbst sexualisierte Gewalt erlebt und benötigst Hilfe oder Unterstützung, findest du am Ende des Artikels einige Kontaktmöglichkeiten und Hilfsangebote.

Ein Rechtssystem, das retraumatisiert

Wenn einer Person ein Unrecht geschieht, dann hat sie das Recht dies zur Anzeige zu bringen und vom Staat geschützt zu werden. Zumindest in der Theorie sollte das durch das Rechtssystem in der Schweiz gegeben sein. Mit dem Schutz und der Unterstützung von Betroffenen von sexualisierter Gewalt, tun sich aber viele Teile des Schweizer Rechtssystems noch schwer. Als ich die mir widerfahrene sexualisierte Gewalt zur Anzeige gebracht habe, hatte ich mich auf eine schwierige Erfahrung eingestellt. Doch was ich in den knapp zwei Jahren Verfahren erlebt habe, hat mir gezeigt, dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben.

Oftmals wird einem als Laie gesagt, dass das Verfahren der Polizei und der rechtlichen Institutionen wie der Staatsanwaltschaft und des Gerichts zum Ziel habe, Betroffenen im Prozess nicht zu retraumatisieren. Die Wahrscheinlichkeiten hierfür sind aber leider gross. Wie sollen Betroffene nun also vorgehen? Eigentlich sollte bei sexualisierter Gewalt doch so schnell wie möglich Anzeige erstattet werden. Gleichzeitig wird erfordert, psychisch für das ganze Verfahren gewappnet zu sein. Doch wie soll das vereinbar sein?

Ich war zwei Jahre in Therapie, bis ich mich bereit gefühlt habe eine Anzeige gegen die Person zu erstatten, welche mir sexualisierte Gewalt angetan hat. Die Opferberatungsstelle hat mich bei diesem Schritt wie bereits bei dem Finden eines Therapieplatzes sehr gut geholfen. Durch die Opferberatungsstelle und meine Therapeutin habe ich mich unterstützt gefühlt und in auf meinem Weg gut getragen. Die Opferberatungsstelle hat für mich die richtige Abteilung bei der Polizei kontaktiert und ich musste nur noch einen Termin mit der zuständigen Polizistin ausmachen. Ich wollte die Erfahrung vermeiden, dass mir von Seiten der Polizei das Gefühl gegeben wird, dass mein Erlebnis für eine Anzeige «nicht genug schlimm», gelogen oder erfunden sei. Denn diese Erfahrung mussten Menschen aus meinem Umfeld schon machen. Ich wollte nicht pathologisiert werden. Ich wollte in einem sicheren Rahmen von meinen traumatischen Erlebnissen erzählen und Unterstützung erhalten. Sollten wir unser Rechtssystem nicht so aufbauen, dass es die Betroffenen wirklich schützt und nicht weiter traumatisiert? Und nein, kommen Sie mir jetzt bitte nicht mit: Was ist mit den falschen Anklagen? Den diese machen einen so geringen Teil aus, gerade in der Schweiz.

Im Zweifel für die Betroffenen

Auch wenn ich bis zum Gerichtstermin mit der Opferberatung, der zuständigen Polizistin für meinen Fall und der Staatsanwältin hauptsächlich gute Erfahrungen machen durfte, waren diese zwei Jahre keine einfache Zeit. Wenn «Im Zweifel für den Angeklagten» gelten soll, könnte nicht auch gleichzeitig «Im Zweifel für die Betroffenen» gelten? Als Betroffene sexualisierter Gewalt, weiss ich, dass es nicht einfach ist auf rechtlichem Weg «Recht» zu bekommen oder Gerechtigkeit zu erfahren. Denn wie meine Therapeutin immer sagt, ist Recht nicht immer gleich Gerechtigkeit und damit hat sie vollkommen recht. Doch muss das so sein? Sollten wir es als Gesellschaft nicht schaffen, dass wir alle Menschen schützen und unterstützen? Würde meine Wohnung ausgeraubt werden, wäre wohl kaum die erste Frage, ob ich nicht doch das Fenster offengelassen hatte. Meine (verneinte) Aussage würde nicht in Frage gestellt werden.

Doch genau das passiert, wenn einem sexualisierte Gewalt angetan wird. Die Glaubwürdigkeit wird im öffentlichen als auch im privaten Leben angezweifelt. Betroffene haben viel zu verlieren, und zwar nicht nur Geld. Und dann frage ich mich, wer würde da bitte einfach aus Jux eine Geschichte erfinden und damit diesen erniedrigenden Rechtsweg beschreiten?

Ich wünsche mir «Im Zweifel für die Betroffenen»! Ich wünsche mir, dass die grösste Sorge von Betroffenen sexualisierter Gewalt sein muss, wie sie mit den psychischen Folgen ihrer Erfahrung klarkommen. Denn während das bereits genügend Energie kostet, sollte uns doch sonst unsere Gesellschaft und das System schützen und unterstützen. Und ich möchte die Annahme aufstellen, dass wir das auch können sollten. Oder was meinen Sie?