Pille Danach Gross Blog

Die ‘Pille danach’ im kleinen Nebenzimmer

Die streng kontrollierte Abgabe von Notfallverhütung entlarvt die vermeintliche Privatheit der Schweizer Reproduktionspolitik.

Den ritualisierten Gang in die Apotheke für eine Notfallkontrazeption macht jährlich jede 44. Frau in der Schweiz. 100’000 so genannte ‘Pillen danach’ werden schätzungsweise in der Schweiz pro Jahr verkauft.100'000 mal pro Jahr läuft also eine Frau in eine Schweizer Apotheke und kauft sich für ungefähr 50 Franken eine Notfallkontrazeption. Sie bezahlt selbst dafür. Die Krankenkasse beteiligt sich nicht.

100'000 mal pro Jahr wird eine Frau in einer Apotheke gebeten, intime Informationen über ihr Sexleben und ihren Zyklus darzulegen. Sie wird über die Einnahme der Pille und über andere Verhütungsmethoden ungefragt aufgeklärt. Erst dann darf sie unter der Aufsicht der Apothekerin die ‘Pille danach’ einnehmen.

Solche Beratungsgespräche sind zeitaufwändig, sehr intim und bevormundend.

Für viele Frauen sind sie unangenehm. Sie schämen sich und fühlen sich verurteilt, wenn sie in der Apotheke nach der ‘Pille danach’ fragen.

Die kurze Geschichte eines Medikamentes

Die strenge Aufsicht über die Abgabe von Notfallverhütung ist verwunderlich: Denn weder birgt die ‘Pille danach’ Suchtpotenzial, noch bringt sie schwerwiegende Nebenwirkungen mit sich.

Es mag fortschrittlich wirken, dass die ‘Pille danach’ seit 2002 ohne ärztliches Rezept in der Apotheke erhältlich ist. Dennoch steht die Schweiz im Vergleich zu anderen westlichen Ländern konservativ da. In den USA beispielsweise ist die ‘Pille danach’ auch in Drogerien und Supermärkten erhältlich. Im Vereinigten Königreich kann die Pille problemlos online bestellt werden. In Spanien, Belgien oder Schweden ist die ‘Pille danach’ ebenfalls rezeptfrei, allerdings ist kein Beratungsgespräch notwendig.

In der Schweiz bestimmt die Einstufung in eine Medikamentenklasse, welche Medikamente verschreibungspflichtig sind, frei zugänglich sind oder wann eine Fachberatung notwendig ist. Notfallverhütung gehört in die Medikamentenklasse B+. Diese Medikamente sind zwar verschreibungspflichtig, dürfen jedoch nach einer Beratung auch von Apotheker:innen herausgegeben werden.

Ebenfalls auf dieser Liste sind Arzneimittel für akute Schmerzen, Einschlafstörungen, Husten, verschiedene Hauterkrankungen, Pilzinfektionen und Erektionsstörungen.

Verschiedene Schweizer Medien haben bereits darauf hingewiesen, dass die für letzteres benötigten Potenzmittel wie Viagra in der Schweiz einfacher erhältlich sind als Notfallverhütung. Denn Viagra ist nach einer Beratung in der Apotheke als Mehrfachpackung erhältlich, trotz seiner vielen – teils gravierenden – Nebenwirkungen.

Der weibliche Körper: Zwischen Privatheit und Bevormundung

Die Schweiz hat eine lange Tradition der liberalen Reproduktionspolitik. Es scheint, als ob Kinder- oder keine-Kinder-kriegen prinzipiell Privatsache sei. Beispielsweise beteiligt sich die Krankenkasse nicht an den Kosten von Verhütungsmitteln. Abtreibung wird erst seit der teilweisen Dekriminalisierung 2002 von der Krankenkasse übernommen und Kosten von frühen Fehlgeburten werden bis heute nicht als Teil der Mutterschaft von der Krankenkasse vergütet. Diese laissez-faire Politik zeigt sich auch durch subtiles nicht-Eingreifen, wie das beispielsweise bei Sterilisationen geschieht: Diese sind zwar legal, dennoch weisen viele Ärzte oder Ärztinnen Frauen mit diesem Anliegen ab. Das gilt insbesondere für junge Frauen. Somit wird diese Form von Verhütung bedeutend erschwert.

Seitens des Bundesrates und Staatsmedien klingt es ähnlich: Die kontrollierte Abgabe von Notfallverhütung diene der Sicherheit der Patientinnen. Die Aufsicht und Beratung seien gerechtfertigt, da Frauen eine ‘Hormonbombe’ verabreicht werde. Dies steht im Kontrast zum politischen Desinteresse gegenüber massenweisen Hormonabgaben in Form von Anti-Baby-Pillen an junge Frauen.

Dass die Abgabe der ‘Pille danach’ so streng reguliert ist, entlarvt die vermeintliche Privatheit der Schweizer Reproduktionspolitik: Wenn es nämlich tatsächlich Privatsache wäre, was Frauen mit ihrem Körper machen, wäre die ‘Pille danach’ frei erhältlich.

Ich bezweifle nicht, dass ein Gespräch in der Apotheke wertvoll sein kann. Aber muss es obligatorisch sein? Und wäre Beratung nicht viel früher, in einem anderen Rahmen, angebracht? Würden Jugendliche in Schweizer Schulen vollständig über den weiblichen Zyklus und Verhütungsmethoden lernen, wäre ein Beratungsgespräch hinfällig.

Letztlich könnte neben dem Ibuprofen, der Pflasterpackung und den Jodtabletten gegen AKW-Unfälle im Medikamentenschränkli in Schweizer Haushalten auch eine Packung der ‘Pille danach’ stehen – für Notfälle.

Denn eigentlich gibt es keinen Grund, ein unkompliziertes, lebensveränderndes Medikament nicht frei abzugeben – ausser einen: Noch immer wird Frauen nicht zugetraut, dass sie vernünftig und verantwortungsvoll Entscheidungen für sich selbst treffen können.

Anaïs Treadwell ist Teil der Redaktion von Geschlechtergerechter.