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Die Blutung wiederherstellen

Eine kurze Geschichte der Abtreibung

Abtreibung – oder ein gewollter Schwangerschaftsabbruch – ist ein kontroverses moralisches, soziales, und politisches Thema. In der Schweiz gilt seit 2002 die sogenannte Fristenlösung. Ein Schwangerschaftsabbruch ist während den ersten drei Schwangerschaftsmonaten straffrei, wenn auch nach wie vor im Strafgesetzbuch geregelt. Die Kosten für den Eingriff werden von der Krankenkasse übernommen.

So wie die Abtreibungsdebatte geführt wird, scheint es, als ob diese Thematik immer schon eine offensichtlich umstrittene war. Die jetzige aktuelle Rechtslage wird als progressiv bezeichnet, wohingegen früher dunkle Zeiten herrschten, in der Frauen keinen Handlungsspielraum und keine Rechte hatten.

Der Blick in die Vergangenheit zeigt ein differenzierteres Bild: die Geschichte des Schwangerschaftsabbruchs ist keine lineare Fortschrittsgeschichte, die in der heutigen liberalen Fristenlösung und in Kliniken unter hygienischen Bedingungen vorgenommenen Abbrüchen endet.

Historiker:innen gehen davon aus, dass bereits in der europäischen Antike und im Mittelalter Instrumente und Kräuter mit abtreibender Wirkung bekannt waren. Frauen wussten sich selbst zu helfen, auch wenn sie dabei häufig ein grosses gesundheitliches Risiko in Kauf nahmen.

Auch später, während der westlichen Neuzeit und bis in die Moderne hinein war „die Periode wiederherzustellen“ eine gängige medizinische Praxis. Lange Zeit war die Verbindung zwischen Schwangerschaft und Menstruation nicht genau bekannt – die ausbleibende Regelblutung ‚wiederherzustellen‘, wurde somit auch nicht mit einem Schwangerschaftsabbruch gleichgesetzt, sondern galt als allgemeine Gesundheitsmassnahme.

Verbot des Abbruchs: Eine (Dis)Kontinuität der Geschichte

Wie und wie oft Frauen in verschiedenen Epochen ihre Schwangerschaften abgebrochen haben, ist schwer zu bestimmen. Obwohl Schwangerschaftsabbrüche oder eben ‚die Blutung wiederherstellen‘ verbreitet waren, hat die Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs eine lange Tradition in der europäischen Geschichte. Das meiste, was wir über Abbrüche aus früheren Zeiten wissen, ist durch historisch überlieferte Quellen wie Gesetzeslagen, Verbote und Gerichtsurkunden bekannt.

Doch die Vorzeichen und Begründungen für Verbote des Schwangerschaftsabbruchs haben sich über die Zeit genau so sehr gewandelt, wie unser Verständnis von Schwangerschaft und dem ungeborenen Kind. Anders als heute wurde in Vergangenheit nicht mit dem „Schutz des ungeborenen Lebens“ argumentiert – dies ist eine relativ junge Perspektive.

Unter römischem und griechischem Recht beispielsweise waren Schwangerschaftsabbrüche, aber auch Infantizide, verbreitet. Im römischen Recht wurde der Fötus als Teil des Körpers der Mutter (pars viscerum) betrachtet. Ein allgemeines Abtreibungsverbot gab es nicht. Abtreibungen waren erst dann problematisch, wenn sie gegen den Willen des paterfamilias durchgeführt wurden. Dieser hatte weitreichende Rechte über Leben und Tod der Menschen, die in seinem Besitz standen. Bestraft wurde also nur die Frau, die gegen den Willen des männlichen Familienoberhaupts ihre Schwangerschaft abbrach. Denn sie nahm ihm weg, was ihm rechtmässig gehörte: Das ungeborene Kind.

Wann wird der Mensch zum Menschen?

Die Diskussion darüber, ab wann das ungeborene Leben als Mensch zählt, wurde bereits in der Antike geführt. Im christlichen Mittelalter wurde sie dann zunehmend zu einer wichtigen theologischen Frage.

Der einflussreiche heilige Thomas von Aquin übernahm Aristoteles’ Theorie, wonach die Beseelung erst mit den ersten Bewegungen im Mutterleib erfolge. Er argumentierte, dass nur Menschen Seelen besitzen könnten, weshalb ein Fötus erst ab den ersten Regungen im Mutterleib als Mensch und somit als beseelt betrachtet werden könne. Abbrüche im Frühstadium der Schwangerschaft wurden demnach nicht als Mord eingestuft. Diese Theorie konkurrenzierte allerdings mit älteren Theorien, die Abbrüche zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft mit Mord gleichsetzten.

Mit der einsetzenden Säkularisierung ab dem 16. Jahrhundert wurde der Schwangerschaftsabbruch sowie auch andere Delikte zunehmend strafrechtlich verfolgt. Mit der Nationalisierung gewann die staatliche Kontrolle über Geburten an Bedeutung. Schwangerschaft wurde weniger als religiös-moralische, sondern als bevölkerungspolitische Frage behandelt.

Die Medikalisierung der Schwangerschaft

Eine zweite Verschiebung fand mit der Durchsetzung der modernen Medizin statt. Durch das gestiegene medizinische Wissen und die Technologisierung wurde die Funktionsweise des weiblichen Körpers bekannter. Die Schwangerschaft als Ereignis wurde somit umgedeutet: von einer natürlichen und ungewissen Entwicklung des weiblichen Körpers, hin zu einem planbaren, überwachbaren Vorgang.

Während bis ins 18. Jahrhundert hinein Mutter und Fötus als eine Einheit betrachtet wurden, etablierte sich zunehmend die Vorstellung, dass es sich um zwei getrennte biologische Entitäten handelt.

Mit der modernen Medizin kam somit eine neue Beziehung in den Fokus: Die Mutter-Fötus Beziehung – in der die Frau die Verantwortung für das Wohlergehen und die Gesundheit diese fragilen Leibesfrucht zu übernehmen hat.

Doch ob sie nun ihren Ehemann um seinen Besitz berauben will, Gottes Geschenk ablehnt, sich zu wenig um die Gesundheit eines unschuldigen ungeborenen Lebens sorgt oder es gar umbringt – man hat der Frau in patriarchalen Gesellschaften schon immer Verantwortungslosigkeit unterstellt und den Schwangerschaftsabbruch als regulierungs- und kriminalisierungsbedürftig eingestuft. Akzeptieren dass Frauen für sich und das werdende Leben in ihr ganz alleine gute Entscheidungen treffen können, war dabei nie eine Option.

Das Bild der ‘bösen, verantwortungslosen Frau’ zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte und hält sich bis heute – auch über Abtreibungsgegner:innen-kreise hinaus.

Was bleibt? Vielleicht müssen wir uns eingestehen, dass die Frage nach der Menschwerdung keine einfachen, klaren Antworten zulässt, sondern eine ganzheitliche, komplexe Perspektive erfordert.

Denn obwohl Frau und Fötus nicht eins sind – sie sind es doch. Genauso, wie die Frauen Teil der Gesellschaft sind.

Text von Anaïs Treadwell, sie ist Autorin bei Geschlechtergerechter

20.03.2025