Boys don't cry

Boys don’t cry

Vor fast einem halben Jahrhundert landete die Band The Cure mit ihrem Hit «Boys Don’t Cry» in den Charts. Wieso der Inhalt dieses Songs aktueller denn je ist und was das alles mit Gift zu tun hat.

I tried to laugh about it

Cover it all up with lies

I tried to laugh about it

Hiding the tears in my eyes

‘Cause boys don’t cry

Boys don’t cry

The Cure, 1979

Die gebräuchlichste Interpretation vom Song «Boys Don’t Cry» ist, dass im Songtext der Mythos der männlichen Unverwundbarkeit entlarvt wird: Der Sänger gibt zu, dass er Tränen in den Augen hat, diese aber mit Lachen überspielt, da «Jungs nicht weinen».

Ich würde weitergehen. Der Song beleuchtet für mich mit einer Unterströmung von Ironie und verschleierter Empörung vor allem, wie tief dieses Klischee des «starken Mannes» von der Gesellschaft, aber auch von den Männer selbst verinnerlicht wurde.

Die Message ist aktueller denn je. Sätze wie «Jungs weinen nicht» oder «Tu nicht so, sei ein richtiger Mann», stützen destruktive Verhaltensweisen, etwa emotionale Distanz und Aggressivität. Und tragen dazu bei, Gewalthandeln als Konfliktbewältigung – unter Jungs und Männern, aber auch gegenüber anderen Menschen – zu normalisieren. Und jetzt sind wir schon mitten in der (meist sehr emotionalen) Diskussion über die sogenannte «toxische Männlichkeit».

Defintionen über Defintionen

Was bedeutet dieser Begriff eigentlich? Toxisch, also giftig, schädlich? Ist mit der «toxischen Männlichkeit» ein Angriff auf jedes männliche Wesen auf diesem Planeten, auf das «Mann-Sein» im Allgemeinen gemeint? Nein, im Gegenteil!

Die Soziologin Laura Chebos versteht unter toxischer Männlichkeit ein traditionelles Männlichkeitsbild, das die Vielfalt von Männlichkeit(en) in unserer Gesellschaft nicht widerspiegelt. Zudem werden die damit verbundenen, als männlich assoziierten Verhaltensweisen adressiert, die destruktiv oder schädigend wirken können, wie zum Beispiel emotionale Distanz, Aggression, Dominanz oder sexuell übergriffiges Verhalten. Diese Gewalthandlungen können sich gegen andere Männer richten, gegen Frauen, Kinder, gegen die LGBTI*-Community, aber auch gegen sich selbst.

Kaum ein anderer Begriff ruft so viele Emotionen und Abwehr hervor wie der der «toxischen Männlichkeit». Meist resultieren die Diskussionen in einem Definitionsstreit. «Dann gibt es aber auch die toxische Weiblichkeit!», ist oft die erste Reaktion. Die Emotionen kochen auf, und viele Männer fahren eine defensive Verteidigungsstrategie.
Verständlich, auf den ersten Hör klingt der Begriff diskriminierend, jedoch (und das ist sehr wichtig) wird damit nicht auf die allgemeine Männlichkeit geschossen. Männlichkeit an sich ist nicht toxisch, sondern es geht um destruktive, einengende Verhaltensweisen, die toxisch wirken.

Die Macht der Stereotype

Doch wieder zum Song von The Cure: Männer weinen nicht. Sollten sie aber, denn sie haben allen Grund dazu! Starre Männlichkeitsbilder beherrschen noch immer die Identifikationsangebote – sei es in Erziehung, Beruf, Werbung oder Mainstream-Medien. Stark, unbesiegbar, wild und immer auf der Gewinnerspur sollen Männer sein, ob sie wollen oder nicht. Der Autor Jack Urwin hat genug davon. Es reicht ihm nicht, dass der starke Mann heute auch mal weinen oder Elternzeit nehmen darf, sondern er fragt sich in seinem Buch, das auch den Titel «Boys don't cry» trägt, warum Männer überhaupt stark sein müssen. Warum messen wir Menschen noch immer an Stereotypen, die eigentlich komplett veraltet sind? Gerade die aktuelle #geschlechtergerechter Studie beweist:

77 % der Frauen in der Schweiz empfinden es als positiv, wenn Männer Gefühle zeigen und vor anderen weinen.

#geschlechtergerechter Studie

Doch wo liegt der Ursprung?

Jack Urwin leitet in seinem Buch das Phänomen der« toxischen Männlichkeit» historisch her: Das Buch beginnt mit seinem Großvater, der im Zweiten Weltkrieg kämpfte und als «kaum noch funktionierendes menschliches Wesen» zurückkam. Er war traumatisiert und trank lieber, als über seine Erlebnisse zu reden. Gegenüber seinem Sohn zeigte er nie Gefühle. Und so wurde dieser zu einem Vater, der wiederum seinem Kind keine Gefühle zeigen konnte – geschweige denn, ihm beibringen konnte, wie man diese ausdrückt. «Es ist wie eine Erbkrankheit», sagt Urwin über Männlichkeit. «Mein Vater war wie sein Vater. Und ich war bis vor Kurzem wie meiner.»

Die Männlichkeitsbilder, die heute herrschen und von Eltern an Kinder weitergegeben werden, sind für Urwin Ideale einer vergangenen Zeit. Die Erfahrung der Weltkriege und vor allem der Niedergang der Arbeiterklasse hätten die Männer im Westen in eine tiefe Krise gestürzt, schreibt Urwin.

Krisenmanagement

Wie soll man(n) diese Krise überwinden? Wie können tief verankerte Glaubenssätze und Normen in einer Gesellschaft überwunden werden?

Die Soziologin Laura Chlebos plädiert dafür, bei der Erziehung der Kinder anzusetzen. Kinder müssten die Chance bekommen, sich frei von Geschlechterstereotypen entwickeln zu können. Dafür müsse sich logischerweise aber auch das Mindset der Erwachsenen ändern. Männer könnten etwa selbst aktiv werden, indem sie sich zu Themen wie Sexismus und Diskriminierung informieren und mehr Raum für vielfältige Männlichkeit(en) schaffen.

Mein Tipp: Sich mal wieder den Song «Boys Don’t Cry» anhören und bei toxisch männlichen Verhaltensweisen immer dahinterschauen und fragen, ob sie noch zeitgemäss und passend sind.

Lena Schibli ist Mitglied der Redaktion