Gesellschaft

Mehr als Schwarz und Weiss

Ob wir es wollen oder nicht: Das Geschlecht ist ein wichtiger Teil unseres gesellschaftlichen Seins. Geschlecht und Identität sind Thema der ersten repräsentativen Befragungsstudie von #geschlechtergerechter und Sotomo. Die Studie zeigt, wie die Schweizer Bevölkerung das Spannungsfeld von Geschlecht und Identität erlebt und wahrnimmt. Die Resultate sind auch als interaktive Reise «100 für die ganze Schweiz» erfahrbar.

Der Genderstern ist zu einem Symbol für einen Kulturkampf um Sprache und Identität geworden. Geschlechterfragen sind ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit gerückt. Die Auseinandersetzungen darüber sind oftmals unerbittlich und verhärtet. Gerade weil sich dabei dennoch viel bewegt, sehen einige sich in ihrer Identität bedroht.

Über 99 Prozent der knapp 2700 Befragten verstehen sich selbst als Frau oder als Mann und dennoch ist die subjektive Wirklichkeit weit weniger binär. Mehr als ein Zehntel nimmt sich nämlich als ebenso weiblich wie männlich war. Graustufen prägen zunehmend die Wahrnehmung von Geschlechtlichkeit.

Nachfolgend haben wir Ihnen die wichtigsten Erkenntnisse aus unserer ersten #geschlechtergerechter-Studie zusammengefasst. Die ganze Studie gibt es als Bericht zum Download sowie interaktiv erlebbar.

Von Weiblichkeit und Männlichkeit

Das politisierte Mannsein

Für 60 Prozent der Frauen ist das eigene Geschlecht ein wichtiger Teil ihrer Identität, jedoch nur für 49 Prozent der Männer. Insgesamt sind sich Frauen ihrer Geschlechtsidentität stärker bewusst als Männer. Die Ausnahme davon bilden Männer, die politisch rechts stehen. Für 62 Prozent von ihnen ist ihr Mannsein wichtig, für zwei Drittel davon sogar sehr wichtig. Demgegenüber identifizieren sich nur gerade 12 Prozent der linksstehenden Männer sehr stark mit ihrem eigenen Geschlecht. Die anhaltende Debatte zu Geschlechterfragen hat offensichtlich zu einer Politisierung des Mannseins geführt, nicht jedoch zu einer entsprechenden Politisierung des Frauseins. Trotz eines oftmals links geprägten Feminismus identifizieren sich linke und rechte Frauen nämlich ähnlich stark mit ihrem Frausein.

Binär und doch fluid:

99,6 Prozent der Befragten bezeichnen sich entweder als Frau oder als Mann. Nur 0,4 ordnen sich nicht ins herkömmliche binäre Schema ein und bezeichnen sich explizit als nicht-binär. Was nach schwarzweiss und wenig Fluidität klingt, hat auch mit der Art der Frage und der Bedeutung der beiden Kategorien für das gesellschaftliche Sein zu tun. Wird nämlich nach dem Grad der Männlichkeit und der Weiblichkeit gefragt, zeigt sich ein anderes Bild: 12 Prozent der Erwachsenen in der Schweiz nehmen sich selbst als ebenso weiblich wie als männlich war. Weitere 5 Prozent sehen sich subjektiv der jeweils anderen Geschlechtsidentität näher als dem eigenen (biologischen) Geschlecht.

Vollzeitarbeit und Männlichkeit

Männer, die Vollzeit arbeiten, nehmen sich selbst als männlicher wahr als Männer, die Teilzeit arbeiten. Bei Frauen gibt es keinen solchen Zusammenhang: Frauen, die zuhause bleiben, nehmen sich nicht als weiblicher wahr als solche, die Vollzeit arbeiten. Während in der Selbstwahrnehmung der Frauen Weiblichkeit nicht vom Erwerbsgrad abhängt, ist Vollzeiterwerbstätigkeit bis heute Ausdruck subjektiver Männlichkeit.

Feminine Männer, maskuline Frauen

Im Schnitt nehmen Frauen sich selbst als ähnlich weiblich wahr, wie sich Männer als männlich ansehen. Geht es jedoch um die Vorlieben in Bezug auf das jeweils andere Geschlecht, hört es mit der Symmetrie auf: 64 Prozent der Frauen finden Männer attraktiv, die auch «weibliche» Seiten haben. Dagegen erachten nur 32 Prozent der Männer Frauen als attraktiv, die auch «männliche» Seiten haben. Fast ebenso wenig halten die Männer von femininen Männern. Männer haben insgesamt binärere und damit auch stereotypere Vorstellungen von männlicher und von weiblicher Attraktivität als Frauen.

Nicht-heterosexuelle Asymmetrie

Besonders weit von binären Stereotypen entfernt positionieren sich nicht-heterosexuelle Frauen. Das betrifft ihre Selbstpositionierung im Weiblichkeits-Männlichkeits-Spektrum und ihre Vorstellung von Attraktivität. Sie bewerten nämlich feminine Männer ebenso positiv wie maskuline Frauen. Nicht-heterosexuelle Männer dagegen sind in ihren Einschätzungen weniger fluid: Sie beurteilen Frauen mit männlichen Seiten noch kritischer, als heterosexuelle Männer es tun. Zudem nennen sie besonders oft körperliche Merkmale, wenn es um die Beschreibung attraktiver Menschen geht. Auch wenn sie sich selbst als femininer einschätzen als viele Heteros, teilen nicht-heterosexuelle Männer Vorstellungen von Attraktivität tendenziell mit besonders maskulinen und heteronormativen Männern.

Geschlecht und Geschlechter

Geschlechterordnung

«Es gibt nur Frau und Mann» – davon sind heute nur noch 18 Prozent der Erwachsenen überzeugt. Ebenfalls nur 20 Prozent sind der Ansicht, dass die binären Geschlechtskategorien bloss von der Gesellschaft gemacht seien. Mainstream ist heute die Vorstellung, dass die meisten Menschen zwar Frau oder Mann sind, dass es aber auch Menschen gibt, die sich nicht ins binäre Schema einordnen lassen.

Junge Erwachsene: Trend und Gegentrend

Fluide, nicht-binäre Vorstellungen von Geschlechtlichkeit sind unter jungen Erwachsenen besonders verbreitet. Besonders häufig ist bei den jüngeren Altersgruppen aber auch die Vorstellung, dass es nur Frau und Mann und keine Ausnahmen gibt. Die erste Ansicht ist unter jungen Frauen besonders verbreitet, letztere unter jungen Männern. Viele junge Frauen stellen die binäre Geschlechterordnung grundsätzlich in Frage. Zumindest ein Teil der jungen Männer fühlt sich dadurch offenbar in der eigenen geschlechtlichen Identität bedroht und setzt auf klare Abgrenzung.

Erweiterung der amtlichen Geschlechtskategorien

In der Schweiz gibt es in amtlichen Dokumenten nur die Optionen Frau oder Mann. Nicht-binäre Personen gibt es amtlich nicht. Gut die Hälfte der Befragten ist für eine Erweiterung des Geschlechtereintrags, knapp die Hälfte ist dagegen.

Zwischen generischem Maskulinum und Genderstern

Nur 7 Prozent verwenden heute in formellen Texten für die Bezeichnung von Berufen oder Funktionen den Genderstern oder eine ähnliche nicht-binäre Schreibweise. Nicht mehr mehrheitsfähig ist jedoch auch das generische Maskulinum – die männliche Schreibweise, bei der die Frauen bloss mitgemeint sind. Für 27 Prozent – darunter vor allem Männer – bleibt die rein männliche Form die erste Wahl. Am beliebtesten ist das Ausschreiben sowohl der weiblichen wie männlichen Form. Damit sind die Frauen nun explizit eingeschlossen, höchstens mitgemeint bleiben Personen mit einer nicht-binären Identität.

Gesellschaft und Geschlecht

Gene und Gesellschaft gleichermassen relevant

Nur 17 Prozent sind der Ansicht, dass Unterschiede in den Verhaltensweisen von Frau und Mann rein biologisch bestimmt und damit angeboren sind. Ebenfalls nur 17 Prozent gehen davon aus, dass Verhaltensunterschiede einzig auf gesellschaftliche Faktoren zurückzuführen sind. Die Mehrheit der Befragten geht davon aus, dass beide Aspekte ausschlaggebend sind. Es sind insbesondere ältere Männer, welche die Wichtigkeit biologischer Faktoren für Verhaltensunterschiede betonen.

Anhaltende Benachteiligungen

Ein Viertel der Schweizer Bevölkerung sieht sich heute aufgrund des eigenen Geschlechts noch immer benachteiligt. Dazu zählt ein Drittel der Frauen, aber auch 17 Prozent der Männer. Geht es um die sexuelle Orientierung, sieht sich ein Fünftel der nicht-heterosexuellen Personen in der Schweiz benachteiligt. Benachteiligt sehen sich zudem auch 7 Prozent der heterosexuellen Männer.

Es braucht weiterhin Mut

Geht es um Weichenstellungen im Leben braucht es gelegentlich Mut. Nichts wird dabei von den Befragten stärker mit Mut in Verbindung gebracht als eine neue Geschlechtsidentität anzunehmen. Bemerkenswert ist, dass das Coming-out als homo- oder bisexuell fast ebenso häufig genannt wird als Lebensentscheid, der besonderen Mut verlangt. Nicht nur die Geschlechtsidentität, sondern auch die sexuelle Orientierung bleiben Themen von grosser Sensibilität. Interessanterweise verbinden beide Schritte vor allem junge Erwachsene mit besonderem Mut.

Die Ergebnisse der durch Sotomo umgesetzten Studie sind repräsentativ für die sprachintegrierte Bevölkerung der Deutschschweiz, der französisch- und der italienischsprachigen Schweiz. Die Befragung zu Fragestellungen rund um das Themenfeld Geschlecht und Geschlechterbeziehungen wurde im Oktober 2021 durchgeführt. Die vorliegende Studie bildet einen ersten Teil der Befragungsinhalte ab. Ein Teil der Studienresultate wird als interaktive, bewegte Reise «100 für die ganze Schweiz» auf der Webplattform gezeigt.