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Gender Wahnsinn

Vor 50 Jahren löste die Einführung des Frauenstimmrechts Ängste aus, heute sind es die Anerkennung von genderfluiden Personen und deren sprachliche Inklusion: Eine Einordnung des neuen Feindbilds der populistischen Rechten.

Geschlecht oder gender ist eines der grossen globalen gesellschaftspolitischen Themen. Spätestens seit der Kolonialzeit stellt Geschlecht eine zentrale Ordnungskategorie in jeder Gesellschaft dar. Es hat sowohl eine sehr persönliche als auch intime Bedeutung. Genau deswegen erhitzen Gender-Debatten die Gemüter. Jede:r ist betroffen. Unser Geschlecht bestimmt unsere Identität, aber auch unsere soziale und rechtliche Position.

«Vorstellungen von persönlicher Identität, Familie und Verwandtschaft, dem Arbeitsmarkt und kultureller und nationaler Identität sind mit gender verknüpft»

Meinungen zu Geschlecht, Feminismus und Gleichstellung spielen bei vielen medial gross geführten, nationalen politischen Debatten mit rein. Dazu zählen die Reformen der Altersvorsorge, die Abstimmung über ein neues Sexualstrafrecht («Nur Ja heisst Ja»-Initiative) oder die Initiative «Ja zum Verhüllungsverbot». Sie beeinflussten die Entscheidung des Nationalrates gegen die Einführung eines dritten Geschlechts. Ebenso prägten sie die nationale Debatte über einen längeren Vaterschaftsurlaub und die Diskussion über die «Ehe für alle».

«Politische Vorstösse rund um Gender-Fragen verunsichern vielen Menschen. Sie fragen sich, was passieren würde, falls die Schweiz eine dritte Geschlechtskategorie einführt.»

Die neue populistische Rechte: Politisieren für ‘Geschlecht und Ordnung’

Rechtspopulistische Parteien wie die Schweizer SVP, die französische Front National, die italienische Fratelli d’Italia und die deutsche rechtsradikale AfD nutzen solche Unsicherheiten aus. Damit heizen sie Debatten populistisch auf. Sie stellen einen relativ jungen Parteityp dar, entstanden in den 1990er Jahren. Gemeinsam sind ihnen traditionalistische und konservative Haltungen, Fremdenfeindlichkeit und eine restriktive Migrationspolitik. Sie setzen auf populistische Rhetorik und eine «systemkritische» Haltung. Das zeigt sich auch oft in EU-kritischen Positionen.

Neu hinzu kam in den letzten zwanzig Jahren der Anti-genderismus. Er wurde zu einem zentralen Element in verschiedenen rechtspopulistischen Parteien Europa. Laut und lästernd politisieren sie für den Erhalt von ‘Geschlecht und Ordnung’.

So warnt etwa die SVP in einem offiziellen Positionspapier vor dem «Gender-Wahnsinn». Donald Trump’s Anhänger:innen sorgen sich, dass man ihre Kinder zu Transpersonen «bekehrt». Trump selbst warnt vor «transgender Operationen auf illegale Aliens». AfD Politiker Maximilian Krah setzt Non-binäre Personen mit Einhörnern gleich. In Bayern wurde vor kurzem das ‘gendern’ verboten: Beamt:innen dürfen in ihrer Arbeit nicht gender-inklusive sprechen oder schreiben. Ein ähnlicher Vorstoss steht in der Stadt Zürich kurz vor der Volksabstimmung. Die Begründung: Die Stadt Zürich missbrauche die Sprache als Feld des Gleichstellungskampfes und «betone verschiedene Geschlechtsidentitäten.»

Trotzig warnt auch italienische Premierministerin Giorgia Meloni vor allen ‘Gender-ideologien’. In einer vielzitierten Rede 2019 rief sie: “Ich bin Giorgia. Ich bin eine Frau. Ich bin eine Mutter. Ich bin Italienerin. Ich bin Christin. Das werdet ihr mir nicht wegnehmen.» Nichts wegnehmen lassen, bloss nichts verlieren! Politiker:innen schüren diese Ängste um das eigene Ich und den möglichen Kontrollverlust. Dieser Grundtenor der neuen populistischen Rechten ist sichtlich erfolgreich: Europaweit gewinnen rechtspopulistische Parteien an Wähler:innen.

«Im aktuellen Kulturkampf sind der Genderstern sowie Non-binäre und genderfluide Personen zum neuen Feindbild geworden.»

Gleichberechtigung und Inklusion, ja– aber nur für die richtigen

Das zeigt die Studie des Deutsch-Polnischen Ethnologen Dr. Patrick Wielowiejski in verschiedenen Gruppierungen der AfD. Die Gleichberechtigung von Frauen oder Homosexuellen werden hier nicht mehr als Probleme politisiert. Vielmehr wird Angst vor einer vermeintlichen Auflösung von sexuellen und Geschlechtsidentitäten geschürt.

Damit hat die populistische Rechte eine beeindruckende Wende vollzogen. Bis vor kurzem opponierte sie den Forderungen nach Diskriminierungsschutz von Frauen oder etwa der homosexuellen Ehe. Heute unterstützen sie diese sogar und verteidigen sie als progressive, europäische Werte gegen ausländische ‘Andere’.

Doch dies geschieht auf Kosten von Frauen und queeren Personen, die nicht in ihr Bild passen. Genderfluide, non-binäre und auch migrantische Personen müssen als die neuen ‘Anderen’ herhalten.

Hatten die Leute vor 50 Jahren noch Angst hatten vor einer emanzipierten, stimmberechtigten Schweizer Frau, so macht heute die sprachliche Inklusion, Multikulturalität und Geschlechtsvielfalt Angst. Rechte Parteien warnen erfolgreich vom ‘woken Wahnsinn’, vom ‘gender-terror’ oder dem ‘gender-Wahnsinn’.

Das zeigt Wirkung in diesen unsicheren Zeiten: Immer mehr Menschen suchen Halt innerhalb der Neuen Rechten. Dabei pflegt die Rechte nebst aller Hetze auch hehre Werte: Sie möchte Traditionen bewahren und steht für individuelle Freiheiten. Doch hehr sind diese Werte indes nur, solange sie nicht auf Kosten anderer ausgelebt werden.

Daher stelle ich eine vernachlässigte Frage in den Raum: Wären wir denn nicht alle freier, wenn wir unsere Geschlechtsidentitäten selbstbestimmter wählen könnten? Wäre das nicht kreativer? Könnten wir nicht alle von fluideren Geschlechtsvorstellungen profitieren?

Könnten wir nicht auch Freude daran finden, unsere Sprache zu verändern, im Wissen, darum, dass wir so, netterweise, mehr Menschen einbeziehen?

Vielleicht würde ein bisschen Wahnsinn uns allen guttun.

Anais Treadwell ist Mitglied der Redaktion Geschlechtergerechter