Männer holen Hilfe via Telefon

Warum Männer ungern Hilfe holen

Bei 147.ch Beratung & Hilfe von Pro Juventute sind zwei Drittel der anrufenden Kinder und Jugendlichen weiblich.

Sind männliche Kinder und Jugendliche somit weniger von psychischen Beeinträchtigungen betroffen? Was hat der Umgang mit der eigenen psychischen Gesundheit mit toxischer Männlichkeit zu tun?

Psychische Gesundheit hat ein Geschlecht

Depressionen sind global die häufigste psychische Störung. Für Europa zeigen Studien, dass 50% mehr Frauen von einer depressiven Störung betroffen sind als Männer. Interessanterweise ist aber die Suizidrate bei Männern drei Mal höher als bei Frauen. Depressionen gelten als Hauptrisikofaktor für Suizid. Männer beschreiben sich selbst nicht nur seltener als depressiv, oft schreiben ihnen auch Fachleute eher ein Burnout oder körperliche Beschwerden zu als eine Depression.

Zuschreibungen verhindern Diagnose

Solche Zuschreibungen können eine Depression «maskieren». Nicht nur Fachpersonen, auch das soziale Umfeld erkennt depressive Störungen bei Männern schlechter. Darum erstaunt es nicht, dass Männer erst Hilfe suchen, wenn sie eine Krise erleben oder durch enge, meist weibliche Bezugspersonen dazu ermutigt werden. Männer mit einer depressiven Störung suchen um 30% weniger häufig psychologische Unterstützung auf und brechen diese öfter ab als Frauen.

Traditionelle Männlichkeit ist nicht mit Hilfesuchen vereinbar

Die geschlechtsspezifische Sozialisation beginnt bereits früh in der Kindheit. Mit Beginn der Adoleszenz trägt die Gesellschaft neue und gesteigerte geschlechtsspezifische Erwartungen an die Jugendlichen heran. Die Heranwachsenden müssen sich mit den sozial geltenden Geschlechternormen – den mit Weiblichkeit und Männlichkeit assoziierten Regeln bezüglich Rollen, Verhaltensweisen, Eigenschaften – auseinandersetzen.

Zu den Männlichkeitsnormen zählen körperliche Stärke, Unabhängigkeit, emotionale Unberührtheit, sexuelle Aktivität und Dominanz. Wie sich diese Männlichkeitsnormen auf das Hilfesuchverhalten im Bereich psychische Gesundheit auswirken, hat das WHO-Regionalbüro für Europa im HEN-Bericht «Psychische Gesundheit, Männer und Kultur» (WHO Health Evidence Network Synthesis Report 70) untersucht. Männer, die sich stärker mit diesen traditionellen Männerbildern identifizieren, vertrauen ihre Probleme anderen weniger oft an und suchen auch weniger oft Hilfe.

«Hilfe annehmen zu können braucht Mut.»

Tracy Wagner

Psychische Gesundheit von Männern und männlichen Jugendlichen verbessern

Um Hilfesuchverhalten zu fördern, muss die Hilfesuche als Stärke oder mutiges Handeln interpretiert werden. Es muss auch verstärkt hervorgehoben werden, dass durch die Hilfe Männlichkeitsnormen wie Autonomie wieder erlangt werden können.

Es geht aber nicht nur darum, das Hilfesuchen neu zu interpretieren. Auch übersteigerte Männlichkeitsnormen, die ein Annehmen von Hilfe erschweren, müssen kritisch hinterfragt werden. Jungs und Männer kommen nicht darum herum, sich mit ihrer Vorstellung von Männlichkeit auseinanderzusetzen. Weshalb ist ein Mann kein Mann, wenn er sich verletzlich zeigt, «schwache» Gefühle wie Trauer zulässt oder gar weint? Ausserdem sollen sie sich dem Stigma und Spott widmen, die jenen Männern zukommen, die den Männlichkeitsvorstellungen nicht genügen. Wenn sie nämlich sehen, dass andere Männer füreinander einstehen, können sie alte Bilder überwinden. Wenn es ihnen gelingt, «Schwäche» als mit ihrer Männlichkeit vereinbar und nicht als Abwertung des Mannseins zu betrachten, dann können sie mit einem grösseren Selbstverständnis frühzeitig auf ihr eigenes Leid hören und selbstfürsorglich Hilfe holen, dann ist ihre Männlichkeit lebensfreundlicher und weniger toxisch.

Es ist uns ein grosses Anliegen, dass sich männliche Kinder und Jugendliche vermehrt wagen, Hilfe in Anspruch zu nehmen und mit dem 147.ch Kontakt aufzunehmen.

Von Tracy Wagner, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Pro Juventute Schweiz.


147.ch Beratung & Hilfe für Kinder und Jugendliche von Pro Juventute hilft Kindern und Jugendlichen bei Fragen, Problemen und in Notsituationen weiter. Fachpersonen beantworten Fragen rund um Familie, persönliche Probleme, Gewalt, Sucht, Schule, Beruf, Liebe, Freundschaft und Sexualität. Sie verweisen bei Bedarf an Fachstellen in der Region weiter. Die Rufnummer 147 ist kostenlos, vertraulich und rund um die Uhr an 365 Tagen pro Jahr erreichbar. Die Nummer 147 erscheint nicht auf der Telefonrechnung. Neben der Telefonnummer 147 ist die Beratung und Hilfe auch via SMS, Chat und E-Mail erreichbar. www.147.ch